O10

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Es ist bereits Spätnachmittag, als ich die Arztpraxis verlasse und in die Kälte raustrete.

Eine Krankschreibung habe ich leider nicht ergattern können, dafür aber meinte er, ich solle so lange daheim bleiben, wie ich möchte.

Am liebsten hätte ich ihm an den Kopf geworfen, dass ich da nie wieder hin möchte und eine verfluchte Krankschreibung bis zum Ende meiner Schulzeit brauche.

Seufzend mache ich mich auf den Heimweg, während mir auf einmal Colin einfällt. Ich krame nach dem verfluchten Ding und wähle seine Nummer. Kurz zögere ich, soll ich ihn wirklich anrufen?

Ich seufze und überwinde mich dann schließlich zum Anrufen. Schließlich sind wir ja jetzt sowas wie Freunde und Freunde rufen einander an, um sich zu erkundigen, wie es dem jeweils anderen geht.

Nach ein paar Sekunden wird abgehoben. Im Hintergrund ist der Geräuschpegel etwas lauter und ich höre kurz ein unangenehmes Rauschen, bevor er sich meldet. Seine Stimme klingt komisch rau und ich frage ihn, wie es ihm geht.

Ein kurzes Schweigen entsteht.

"Ich bin gerade im Krankenhaus", meint er schließlich und das einzige, was ich von mir geben kann, ist ein lächerliches, leises 'Oh'.

"Ich..ich habe das Video gesehen. Es tut mir leid", sage ich schließlich nach kurzem Zögern, auch wenn es sich so falsch anhört.

Colin lacht leise auf. "Wer hat es denn nicht gesehen?", fragt er rhetorisch und ich nicke, auch wenn er es nicht sehen kann.

"Was haben die Ärzte gesagt?", hinterfrage ich und hoffe, dass er mit nicht allzu schweren Verletzungen davon gekommen ist.

"Was?", fragt er verwirrt nach. Ich runzele die Stirn.

"Na, was die Ärzte gesagt haben, zu deinen Verletzungen", erläutere ich ihm meine Frage.

"Achso, du denkst, ich wäre zu einer Untersuchung im Krankenhaus? Nein nein, mir geht es gut. Vielleicht ein paar Prellungen, und ein Haufen Blutergüße, morgen bestimmt noch ein blaues Auge, aber damit kann ich leben", antwortet er und verwirrt mich damit völlig.

"Was machst du denn dann im Krankenhaus?"

Er seufzt. "Meiner Mutter geht es immer schlechter. Sie wurde vor ein paar Stunden eingeliefert, nachdem mein Bruder den Notruf gewählt hat", erzählt er leise und ich atme laut die Luft aus.

Ich stelle mir seinen kleinen, süßen Bruder vor, der noch viel zu jung ist für das alles, wie er panisch seiner Mutter helfen möchte und den Notruf wählen muss, während sie nicht mehr ansprechbar ist.

"Das tut mir leid. Aber ich denke, du solltest dich trotzdem untersuchen lassen. Es sah wirklich mies aus", schlage ich vor und er lacht wieder nur verächtlich auf.

"Wieso? Nur, weil ein paar Prolle mit ihren Fäusten gewedelt haben wie kleine Kinder. Ray ist ein Vollidiot. Er braucht eine gesamte Gruppe, um einen einzigen zu verprügeln und die ganze Schule, damit sein Ego ein wenig gestärkt ist", er klingt fassungslos. "Nein, mir geht es gut. Die Genugtuung gönne ich ihnen nicht, dass ich jetzt doch zusammengeflickt werden muss und dann morgen mit Gips und sonstigem Schwachsinn in dieser verfluchten Schule auftauche."

Ich verstehe ihn und ich kann mich auch zu gut in ihn hineinversetzen. Erschreckenderweise verstehe ich ihn so gut, viel besser, als ich Jade oder andere Freunde verstanden habe.

"Ich hätte niemals gedacht, dass sie so weit gehen", gebe ich ehrlich zu und setze mich in Bewegung, da ich bis jetzt nur still gestanden bin.

"Sie kennen ihre Grenzen nicht", er macht eine kurze Pause. "Doch, sie kennen sie. Wer kennt sie nicht? Aber sie wollen zeigen, dass eine Grenze sie nicht aufhalten kann. Lächerlich."

"Ich möchte ihnen manchmal das alles einfach nur zurückgeben", sage ich ehrlich.

"Ich weiß", er klingt verständnisvoll.

"Weißt du, du kriegst immer, was du gibst. Sie werden das kriegen, was sie verdienen. Das verspreche ich dir, Adina und darauf schwöre ich", sagt er.

Ich lache. "Wie willst du das denn anstellen?"

Er schweigt kurz und scheint Nachzudenken.

"Es gibt viele Wege. Wer will, der findet immer Wege. Und ich will, und das verdammt stark."

Break upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt