Jungalt

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Oxymoron
Subjektiv, Neutrum: Zusammenstellung zweier sich widersprechender Begriffe in einem Kompositum oder in einer rhetorischen Figur. (Duden)

„Du bist jung, du hast noch Zeit."
Der Satz ist ausgestorben.

Wir haben keine Zeit. Das Hier und Jetzt existiert nicht. Es gibt nur gestern und morgen. Das „Ich muss mich erinnern ..." gefolgt von „Weil morgen schon alles vorbei ist."
Wir lernen, sitzen den ganzen Tag im Zimmer, schreiben und rechnen und versuchen zu denken – aber wofür?
Wir haben ja doch keine Zeit, den Gedanken auszuführen.
Das Handy klingelt. Immer erreichbar. Immer beschäftigt. Immer perfekt.
Morgen den Aufsatz abgeben, Dienstag die Klausur, Mittwoch das Referat, Donnerstag die Hausaufgabenkontrolle und wenn noch Zeit ist, vielleicht schon mal Lernzettel schreiben für den Morgen darauf.
Der Kalender ist voll, die Zettel kleben an allen Ecken und Kanten, pass' bloß auf, dass nichts abfällt, wobei es zur Not noch das Handy gibt. Die Termine musst du noch übertragen, das sollte zeitlich in der Freistunde zwischen elf Uhr zwanzig und zwölf Uhr fünf gehen oder in der Busfahrt nach Hause.
Ich bin müde.
„Was willst du später machen?", fragen sie.
Einige zucken die Schultern, andere erzählen von Träumen, die sie gegen „sichere" Jobs eintauschen.
Aber was ist schon sicher?
Abiklausuren, Telefongespräche, Interviews, Bewerbungen schreiben, Bewerbungen schicken, Fristen verpassen, sich ärgern, sorgen, die Zeit verfluchen, lernen, Noten, sorgen, lernen, sorgen –
Lernen. Sorgen.
Ich stehe morgens auf, drehe mich um, liege schon wieder abends im Bett. Zahlen und Wörter, Fachbegriffe verfolgen mich in den Traum.
Schneller, besser, perfekt.

„Du bist jung, du hast noch Zeit."
Den Satz wünschen wir uns.

Wir lesen ihn auf Sprücheseiten auf Instagram. Nehmen uns nur kurz – ganz kurz – die Zeit, darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn wir unseren Träumen folgen würden.
Dann klingelt das Handy. Weiter geht's.
Vielleicht sind wir gar nicht jung, sondern alt. Vielleicht haben wir nicht das ganze Leben vor uns. Vielleicht sterben wir alle bald, weil wir uns eines Tages umdrehen und schon im Krankenhausbett liegen.
Wirst du zurückschauen und lächeln?
Wirst du zurückschauen und weinen, weil du dich nur an Fakten erinnerst? An Prozentsätze und sprachliche Mittel? An chemische Formeln und Jahreszahlen? An den Chef, dem du gefolgt bist – schlechter Ersatz für den Traum?

„Wir sind so jung. Wir haben noch so viel Zeit."
Nimm sie dir, bevor sie ausstirbt.
Ich werde lächeln ... hoffe ich.

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