Hände II.

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Es waren Kinderhände, die sich aneinander klammerten, während deren zugehörige Körper auf dem Spielplatz balancierten. Beide Gesichter strahlten, wobei sich kleine Grübchen in die Pausbacken schlichen. Sie beide waren glücklich ohne zu wissen, dass dieser Moment zwar das erste, jedoch lange nicht das letzte Mal sein würde, dass ihre Finger sich miteinander verflochten.
Mit neun Jahren zog Elisa fort. Mike blieb zurück und verstaute die Erinnerung an seine Kindheitsfreundin in eines der hintersten Fächer seines Gehirns. Elisa war wurde von ihrer neuen Umgebung so sehr beansprucht, dass auch sie nur noch selten den Gedanken an die letzten Jahre nachhing.

Seine Haut ist warm und rau. Kräftig. Schön. Ich verschränke meine Finger mit den seinen, versuche ihn so nah an mich zu haben, ohne zu zeigen, wie viel mir dieser Augenblick bedeutet. Es liegt Jahre zurück, dass ich Mike als meinen besten Kumpel sah. Jetzt sehe ich in die Augen eines Jungen, der mich nicht wiedererkennt. Aber ich kenne ihn. Ich kenne das gräuliche Blau seiner Augen, deren Iris durch verschlungene Linien durchzogen ist. Ich kenne sein Schmunzeln, bei dem die Mundwinkel leicht zucken. Ich kenne den Umriss seines Gesichts, selbst wenn aus der runden eine ovale Form wurde und die Wangenknochen sich stärker abzeichnen als zuvor. Ich erkenne die charakteristische Falte zwischen seinen Augenbrauen, wenn er sich konzentriert oder nachdenkt. Ich erkenne ihn.
Er erkennt mich nicht. Bisher.
Als ich zurück zu meiner Mutter zog und somit dieselbe Oberstufe besuchte wie er, fiel mir der Junge in der zweiten Reihe im Deutschkurs sofort auf. Er erinnerte mich an jemanden, nur an wen?
Ich sprach ihn in der Pause an. Ich stellte mich vor und er stellte mir die Schule vor. Ich lachte und er schmunzelte. Wir redeten, liefen gemeinsam nach Hause und tauschten die Nummern aus. Wir trafen uns, wurden Freunde und er blieb im Unwissen, während ich für mich selbst sicher gestellt hatte, dass er es war. Mike.

Es ist das erste Mal, seit ich ihn wiedergesehen habe, dass er meine Hand hält. Richtig. Dabei hat er mir nur aufgeholfen, als ich beim Schlittschuhfahren ausgerutscht bin.
Mein Hintern ist nass und kalt, meine Haare sind mit Schnee beziehungsweise abgekratzten Eis bedeckt und ich kann die Gänsehaut spüren, die sich auf meinem gesamten Körper ausbreitet. Ich sollte frieren, dabei ist mir warm. Sehr warm sogar.
Sein Griff ist fest, hilfsbereit, als ich ihm die Hand entgegenstrecke. Ich hebe den Blick in diese klaren, graublauen Augen. Sein belustigtes Grinsen verschwindet, sein Schmunzeln verblasst, während sein Blick sich verändert. Der freundschaftliche Ausdruck verwandelt sich in einen tieferen Gedankengang - in eine verdrängte oder verloren gegangene Erinnerung. Ich sehe mich selbst in seinen Augen, aber es ist nicht die Sechzehnjährige, die auf dem Eis liegt, sondern ein junges Mädchen mit hellblonden, geflochtenen Haaren, die ihr über die rechte Schulter fallen. Ihr Gesicht ist weich, unbekümmert, glücklich.
Ich erinnere mich an unsere Hände. Auf dem Spielplatz. Vor über einem Jahrzehnt.
Ich glaube, er erinnert sich auch. Ich sehe es in seinem Gesichtsausdruck, als er mich hochzieht und mich auffängt, als ich im Schwung beinahe gegen ihn pralle. Er mustert mich mit einer Miene, die zwischen nachdenklich, ungläubig und ernst schwankt.
Ich drücke seine Hand, die ich noch immer nicht losgelassen habe - er hat nicht losgelassen.
„Elisa", haucht er. Ich antworte nicht.
„Ich ... Mir war nicht klar, dass ... Wir kennen uns oder? Ich meine ...", stammelt er, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich nicke, spüre, wie seine Nähe, sein Duft meine Sinne betört.
„Du wusstest es." Wieder nicke ich. Mike scheint nicht zu wissen, wie er darauf reagieren soll. Aus einem plötzlichen Impuls heraus, rutsche ich mit meinen Schlittschuhen vorsichtig zu ihm, ziehe ihn an mich und vergrabe mein Gesicht an seinem Pulli. Er drückt mich noch näher an sich heran und ich kann nicht umhin zu lächeln. Meine Augen schließen sich und ich konzentriere mich auf seine warme, raue Haut.
Die starke Hand, die meine festhält und nicht mehr loslässt. Auf dem Spielplatz.

30.1.2015

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Der Text hier ist vor einigen Monaten durch eine "Schreibübung" aus einem Buch entstanden, dessen Titel mir nicht mehr einfallen will. Ich hatte eine Schreibblockade und habe versucht irgendetwas auf Papier zu bringen (in diesem Fall zum Thema Hände).
Ich hoffe, es gefällt euch und ihr lasst mir einen Kommentar und Votes dar ;)

LG, Joe

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