Begegnungen

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  Ich hielt mich hauptsächlich im Hintergrund beim Essen und war froh, als es zu Ende war. Schließlich war es nicht so, dass ich mit der Familie von einem guten Freund aß, sondern der Familie eines Fremden und das war so ziemlich das unangenehmste, was einem passieren konnte.

"Soll ich dich Heim fahren?", riss Justin mich aus meinen Gedanken.
"Nein, danke. Ich finde schon nach Hause.", versuchte ich mich raus zu reden. Ich wollte nicht, dass er wusste, wo ich wohnte.
"Hab dich nicht so.", daraufhin verschwand er auch schon und holte seinen Autoschlüssel. Toll, wieso frägt er überhaupt, wenn er es dann eh tut, egal was ich sage?
Ich verabschiedete mich von seiner Familie und trotte hinter ihm her.
"Justin? Kommst du wieder, oder ge-", hörte ich seine Mutter rufen, als er ihr das Wort abschnitt."Ja. Ich komme wieder, Mom."

Ich sollte ihm den Weg beschreiben, doch wusste ich selbst nicht wo wir waren. Wie auch? Ich wohne erst seit zwei Wochen hier und klein war die Stadt auch nicht. Also fuhren wir zurück zur Schule, von der ich dann eine Chance hatte.
"Also, weißt du schon, was du singen willst?", fragte er mich plötzlich.
Ich starrte auf meine Hand und spielte mit meinen Fingern rum, als ich meinen Kopf schüttelte.
"Hmm, hör dir doch einfach mal die Lieder an und entscheide dich für eines bis Übermorgen." Dann schaltete er das Radio ein und unser Gespräch war scheinbar beendet.
Übermorgen? Immerhin hatte ich also morgen meine Ruhe.
Bis auf meine Weganweisungen redeten wir nicht, bis Justin anfing zu singen. Wonderwall von Oasis lief gerade im Radio - ich liebe diese Lied. Und fuck, singen konnte er auch noch. Ist das unfair?
Ich glaube, ich habe bei weitem das größte Glück mit meinem Musik-Partner von allen aus der Klasse.
"Stopp.", sagte ich, als wir an dem Starbucks, das nur zwei Minuten von meinem Zuhause entfernt waren, ankamen.
"Du wohnst im Starbucks?", fragte er mich grinsend. "Wie praktisch."
"Nein, aber ich wohne gleich hier in der Nähe.", antwortete ich leise.
"Komm, es ist dunkel. Erwarte nicht, dass ich dich jetzt hier in der Kälte und im Dunkeln irgendwo hinlaufen lasse, wenn wir eh fast da sind.", er schaute mir dabei in die Augen und es sah so aus, als meinte er es ernst.
Ich starrte auf meine Hände:"Gerade aus."
Es dauerte keine zwei Minuten, da fuhren wir in meine Straße rein. Die Häuser in diesem Stadtteil waren nicht mehr schön und kuschelig, sondern einfach nur Häuser. Meist waren es Mehrfamilienhäuser mit kleinen Wohnungen. Es sah nicht schäbig aus hier aber schön war es auch nicht. Und es war mir unangenehm, dass Justin jetzt wusste wo ich wohnte. Keiner wusste das. Ich wollte das auch nicht.
Kaum hielt er den Wagen an, sprang ich raus. Ohne eine Verabschiedung verschwand ich und rannte in Richtung Haustür.
Als ich im 2. Stock ankam wurde ich schon von meinen Geschwistern begrüßt. Wir teilten uns ein Zimmer zu dritt, da wir in einer zwei Zimmer Wohnung zu viert wohnten.
Ich fand das eigentlich nicht weiter schlimm, aber ich wollte nicht, dass die andren irgendwas über mich dachten oder über meine Familie. Denn die war definitiv die Beste.
Wir waren auch nicht arm, aber die Mieten hier waren teuer und seit mein Vater -
"Alice!", wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als meine Mutter auf mich zu kam. "Wo warst du den ganzen Tag? Ich habe mir Sorgen gemacht."
"Sorry Mom. Ich muss ein Schulprojekt machen und habe mich heute mit meinem Partner dafür getroffen.", versuchte ich weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen.
"Ein Junge?", frage sie mich mit einem aufziehenden Ton.
"Hmmh."
"Alice hat einen Freund.", fing meine kleine Schwester Bella an zu schreien.
"Nein! Garantiert nicht."
Meine Mutter lachte:"Naja, dann kommt mal zum Essen."
Schon wieder?! Ich hatte doch gerade erst gegessen. Aber bei meiner Mutter war jeder Widerstand zwecklos, also setzte ich mich zu ihnen und aß ganze drei Nudeln, da ich sonst geplatzt wäre.

Als ich am Abend im Bett lag - wir teilten uns zu dritt ein Doppelbett, da das Zimmer sonst zu klein wäre - dachte ich über das nach, was heute geschehen war. Warum war er plötzlich so nett zu mir? Warum verhielt er sich in der Schule anders als außerhalb? Vielleicht wegen seinen Freunden?
Irgendwann fielen mir die Augen zu und ich schlief ein, Bella und Alex an mich gekuschelt.

Als ich am nächsten Tag das Schulgelände betrat lief mir eine aufgeregte Melissa entgegen, gefolgt von Louis, der mich anlächelte.
"Wiiiiie wars?", quietschte sie. Rettet mich. Ich bin für dieses Gespräch um 7:40 Uhr noch nicht bereit. Bitte. Als Louis sich an ihr vorbei quetschte und mich in den Arm nahm:"War es schlimm?"
"Nein. Es war ganz okay.", antwortete ich ihm und ignorierte Meli, die daraufhin beleidigt ins Schulhaus stampfte. Wir folgten ihr, als ich Justin bemerkte. Er sah mich an und lächelte, als ein Mädchen auf ihn zustürmte und anfing ihn zu küssen.
Warum müssen Leute sowas auf dem Pausenhof machen? Sucht euch ein Zimmer, kusch kusch.
Ich wendete mich ab und sah Melissa, die sich gerade bei Rory ausheulte, dass ich ihr keine Details gegeben hatte. Diese belächelte sie jedoch nur etwas genervt. Scheinbar war es auch für sie noch zu früh für irgendeine Art Gespräch dieser Richtung.
Der Vormittag verging schnell, wobei meine Gedanken immer wieder abschweiften. Warum hat er mich so direkt angeschaut und dabei gelächelt, als ich ihn bemerkte?Vielleicht war ich ja gar nicht gemeint, sondern dieses Mädchen. Apropo, wer was dieses Mädchen überhaupt? Nein, warte, das war mir egal, oder? Es sollte mir zumindest egal sein. Ja, es war mir definitiv egal.

Als ich mich an den gewohnten Tisch setzte um meinen Mittagsmatsch zu essen, teilten mir die anderen mit, dass ich heute mit ihnen in die Stadt gehen würde. Zum Kaffeetrinken und Stadtbummeln. Ich wollte ihnen gerade widersprechen, als Amy - die Klugscheißerin schlechthin - mir das Wort abschnitt. "Keine Widerrede. Diesmal gehst du mit. Du musst doch auch mal von Zuhause raus." Damit war das Gespräch beendet.

Am Nachmittag wartete ich vor einem Starbucks in der Stadtmitte auf die anderen. Sie waren noch drinnen. Ich war schon einmal raus gegangen, mit der Begründung mir wäre schlecht und ich bräuchte frische Luft, dabei waren mir ihre Gespräche nur auf die Nerven gegangen. Sie unterhielten sich tatsächlich über Schule. Jetzt gerade, im Starbucks um 16 Uhr am Nachmittag. In ihrer Freizeit. Lasst es mich noch einmal betonen, damit es auch wirklich jeder mitbekommt. F-R-E-I-Z-E-I-T.  Haben die eigentlich kein Leben? Naja, nicht mein Problem.
Ich fing an die Leute zu beobachten, als mir ein bekanntes Gesicht auffiel. James.
Hinter ihm Jason und zwei andere Jungs, die ich nicht kannte. Den Schluss machte Justin, der gerade telefonierte. Er bemerkte mich nicht, weswegen ich mir die Freiheit nahm ihn einmal genauer anzuschauen. Er hatte schwarze, etwas längere Haare, makellose Haut und sah ziemlich durchtrainiert aus. Ich glaube, er hatte leuchtend blaue Augen, die gerade zwischen Wut und Verzweiflung hin und her blitzen. Zumindest sah es von dieser Entfernung so aus. Kaum waren sie an mir vorbei gelaufen kamen auch schon die andren aus dem Starbucks.
"Ist das Justin?", quietschte Melissa. Warum sind verliebte Mädchen eigentlich so nervig?
"Nope.", antwortete ich und wandte mich ab.

Der Stadtbummel war auch nicht gerade der Hit. Schade, dass Louis nicht dabei war, dann wäre es sicher unterhaltsamer geworden. Aber klar, sowas ist nur für Mädchen, von denen sich jedoch auch keine etwas gekauft hatte und die über irgendwelche chemischen Formeln philosophierten. Sagte ich eigentlich schon, dass ich von Chemie genauso viel Ahnung hatte wie von Französisch und Mathe? Nein? Dann lasst mich es nachholen. Von Chemie habe ich genauso viel Ahnung wie von Französisch und Mathe. Ich versuchte mich den ganzen Tag also möglichst nicht ausgeschlossen und dumm zu fühlen. Darüber, ob ich es geschafft hatte brauchen wir jetzt auch gar nicht erst zu diskutieren. Man kann es sich denken.
Als ich am Abend endlich nach Hause kam, führte ich erst einmal einen Freudentanz auf für den überlebten Tag. Meine Mom war mit meinen Geschwistern übers Wochenende zu deren Oma und Opa gefahren. Da sie nicht meine Großeltern waren, ging ich da meistens nicht mit, da es sich komisch anfühlte und sie mich auch nicht als Enkelkind ansahen. Sehr spezielle Kotzbr- äh Menschen. 
Ich zog mir eine Jogginghose und einen oversize Pulli an und wollte mich gerade aufs Sofa kuscheln um zu lesen, als die Tür klingelte.  

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