Unerwünscht und Unerwartet

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  Ich blieb noch einen kurzen Augenblick stehen - vielleicht würde der Besucher ja wieder gehen.
Alice, du bist keine fünf mehr, du bist siebzehn. Jetzt geh und mach diese blöde Tür auf, zwang ich mich selbst und setze mich in Schneckentempo in Bewegung.
Hätten wir doch wenigstens so ein Guckloch-Teil, durch das man durchsehen kann, an der Tür, aber nein. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, riss ich die Tür einfach auf.
Ich musste mich bemühen, dass mein Mund nicht aufklappte.
Ich wollte die Türe wieder schließen, als er den Füß dazwischen schob.
"Ist deine Mutter da?", lallte er.
"Nein, und jetzt geh bitte wieder.", versuchte ich ihn loszuwerden, doch statt auf mich zu hören schubste er mich weg und betrat die Wohnung. Unwillkürlich fing ich an zu zittern. Die letzten Begegnungen mit ihm waren nicht sonderlich erfreulich gewesen. Woher wusste er, dass wir hier wohnten? Und warum zur Hölle war er hier - ach Moment, dumme Frage. Ich wurde ja in Denver geboren, bevor meine Mutter nach New Orleans zog. Deshalb wohnte er hier. Anstatt mir jedoch darüber Gedanken zu machen, sollte ich lieber überlegen wie ich den besoffenen Typen hier weg bekam.
"Wo ist deine Mutter?", fragte er mich, als er näher kam. Plötzlich wirkte er sehr nüchtern, als seine Wut anfing sich in seinem Gesicht zu spiegeln. Er wurde schon immer schnell wütend.
"Ich hab dich etwas gefragt", knurrte er und quetschte mich zwischen Wand und sich ein. Als ich nicht antwortete merkte ich plötzlich, wie mir Blut über die Lippe lief - er hatte mich geschlagen.
"Verpiss dich", rief ich, so laut ich konnte. Vielleicht würde mich ja jemand hören, doch da fing ich schon die nächste. Er boxte mir noch einmal in den Bauch, worauf hin ich mich fast übergeben musste, und löste sich dann von mir.
"Wir sprechen uns noch.", damit verließ er die Wohnung und knallte die Tür dabei so fest zu, dass die Gläser im Schrank wackelten.
Ich hasste ihn. Und ich wollte ihn nicht wieder sehen. Nie wieder.

Ich ging ins Bad, nachdem ich die Tür sicherheitshalber abgeschlossen hatte, und betrachtete mich im Spiegel. Meine Lippe war aufgeplatzt und meine Nase blutete. Außerdem zog sich ein roter Strich über meine Wange, das würde sicher ein blauer Fleck werden.
Ich versuchte das Blut so gut es ging weg zu waschen und legte mich dann sofort ins Bett. Ich wollte nur noch schlafen, mehr nicht.  

  Als ich am nächsten Morgen meine Augen aufschlug war es schon hell außen. Ich sah auf die Uhr - halb zwei. Ups. Bei dem Versuch mich aufzusetzen durchfuhr mich ein Schmerz und ich beschloss noch liegen zu bleiben. Es war Samstag, da müsste ich eh nirgendwo hin. Ich drehte mich auf die Seite und starrte an die Wand und versuchte nicht an das gestrige Geschehen zu denken. Normalerweise hatten wir ihn nur ein oder zwei mal im Jahr gesehen, weil er darauf bestand, jetzt wohnten wir in unmittelbarer Nähe zu ihm und hatten nicht daran gedacht, als wir hier her zogen. Beschissener ging es nicht. Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer wandern, bis er an meinem Kopfkissen hängen blieb. Blut. Shit. Wieso immer ich?
Jedes Mal, wenn ich einmal Nasenbluten hatte, hörte es nicht mehr auf und kam in den folgenden zwei Tagen immer wieder. Da konnte ich mich heute auf etwas gefasst machen, dachte ich und fischte nach einer Packung Taschentücher, die ich sicherheitshalber heute wohl oder übel überall mit mir hin schleppen würde.
Ich sah noch einmal auf die Uhr, drei. Langsam bekam ich hunger, woraufhin ich aus meinem Bett krabbelte und das Kissen mit einem neuen Bezug beglückte. Den alten schmiss ich in die Wäsche. Wie ging dieses Ding noch mal an? Ach, keine Ahnung. Ich konnte diese blöden Waschmaschinen noch nie bedienen.
Da ich schon einmal im Badezimmer war konnte ich mich auch gleich waschen, beschloss ich. Zum Duschen hatte ich jedoch keine Lust, also wusch ich mir einfach nur das Blut aus dem Gesicht und vermied es dabei in den Spiegel zu schauen.
Eigentlich war es ja egal, wie ich heute aussah. Deshalb band ich mir meine Haare einfach irgendwie nach oben und stolperte in die Küche. Nachdem ich sämtliche Schränke durchforstet hatte, entschied ich mich mir einen Apfel zu nehmen, da wir sonst eigentlich nicht wirklich viel Zuhause hatten, machte mir noch eine Tasse Tee und setzte mich dann mit drei kuschligen Decken aufs Sofa.
Ich versank in meinem Buch ohne zu merken, wie die Zeit umging, als es plötzlich klingelte.
Nicht schon wieder, dachte ich und zuckte zusammen.
Lasst mich doch einfach alle in Ruhe, maulte ich innerlich und zog die Decke über mein Gesicht.
Als es noch einmal klingelte stand ich widerwillig auf und schlürfte zur Tür.
Mir blieb fast der Atem weg, als ich nach außen spähte.
"Hi.", sagte der unerwartete Besuch.
"Hallo."
"Darf ich rein kommen?"
Ich gab den Weg frei und er sah sich um.
"Nachdem ich mir dachte, du würdest den Film ohne meine Hilfe sicher nicht anschauen, dachte ich, ich zwing dich dazu.", erklärte er mir, als ich in verwirrt musterte und hielt das Musical hoch. Gerade dachte ich darüber nach, woher er wusste, wo ich wohnte, als mir einfiel, dass er mich ja nach Hause gebracht hatte. Vielleicht hatte er mich deshalb in der Schule so seltsam angeschaut. Vielleicht fand er es abstoßend, dass ich hier in einer zwei Zimmerwohnung lebte.
Sein Blick war auf mein Gesicht gerichtet: "Wie schaust du denn aus?"
Jetzt fiel mir wieder ein, was eigentlich geschehen war. Ich drehte mich schnell weg, doch er packte mich am Arm und zog mich zu sich. "Wer war das?", hackte er nach.
Ich schüttelte den Kopf. Nicht weinen. Ich weine nie, gestern habe ich auch nicht geweint, dann würde ich jetzt sicher nicht damit anfangen. Doch irgendwie bahnten sich meine Tränen doch einen Weg durch meine Augen. Warum musste ich denn jetzt weinen? Hatte ich Angst? Vor ihm? Nein. Vor seiner Reaktion? Hm, ja. Vielleicht war ich aber auch gerade einfach mit der Situation überfordert, dachte ich. Ich spürte etwas über meine Lippe laufen. Nein, jetzt nicht wirklich?, dachte ich noch, da wurde ich schon aufs Sofa gesetzt und er ging in die Küche um mit einem Haufen Papiertücher wieder zu kommen. Klar war Justin nicht der Typ, der sich groß darum scherte, dass er in einem fremden Haus war und klar, nachdenken verursacht Nasenbluten, sagte meine Mutter immer. Besonders in Stresssituationen. Das war peinlich.
Glücklicherweise hörte es bald wieder auf. Er hatte mich die ganze Zeit besorgt angeschaut. Zumindest glaube ich, dass es besorgt war. Kurz darauf setzte er sich neben mich und fragte noch einmal, was passiert war. Ich schüttelte den Kopf und merkte schon wieder Tränen meine Wange runterrollen. Ich war doch keine Heulsuse. Zusammenreisen Alice!, ermahnte ich mich, doch es funktionierte nicht und als Justin es bemerkte zog er mich an sich.
"Wo ist deine Familie?", fragte er mich vorsichtig.
"Meine Mutter ist mit meinen Geschwistern bei deren Oma.", nuschelte ich in sein TShirt.
"Weiß sie davon?", ich schüttelte den Kopf, er beließ es letzten Endes dabei.
Es war komisch so kuschelnd mit ihm da zu liegen. Ich kannte ihn ja nicht mal wirklich. Er strich mir beruhigend über den Rücken und wir saßen noch ein bisschen so da, bis ich realisierte mit wem ich da eigentlich saß. Schon wieder war er so ganz anders, als ich ihn einschätze.
"Wolltest du nicht einen Film mit mir anschauen?", fragte ich in kurze Zeit später vorsichtig, da mir die Situation etwas unangenehm und komisch vorkam.
Er nickte und stand auf, um die DVD einzulegen. Als er wieder kam war ich ein Stück weggerutscht, damit er wieder genug Platz hatte, doch er zog mich wieder an sich. Diesmal war es nicht ganz so absurd, weil der Film lief. Zumindestens kam es mir diesmal so vor.

Justin hatte recht. Die Musik war wirklich gut und zwischendurch sang er mit, was mich zum schmunzeln brachte. Zwischendurch beobachtete ich ihn und einmal erwischte er mich dabei und lächelte mich an. Irgendwo konnte ich ja verstehen, dass ihn alle so toll fanden. Er sah schon wirklich gut aus. Schnell schüttelte ich den Gedanken aus meinem Kopf. Er war dann doch eine andere Liga als ich, also sollte ich mir ja keine falschen Hoffnungen oder so machen. Außerdem war er ja auch gar nicht mein Typ. Er rauchte, schwänzte Schule, tat irgendwelche Dinge, die er scheinbar nicht tun sollte, auch wenn das noch nicht bestätigt war und außerdem war er auch nicht gerade das, was man treu nannte.
"Ist was?", fragte er mich plötzlich und riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte ihn die ganze Zeit angestarrt.
"Nein.", schüttelte ich den Kopf.
"Willst du sicher nicht darüber reden?", fragte er mich noch einmal, worauf ich den Kopf schüttelte. Ich wusste, dass er nicht meine Gedanken meinte.
"Sag mir wenigstens, wer es war."
Ich zögerte und drehte meinen Kopf dann so, dass ich in sein Shirt nuschelte. "Mein Erzeuger." Ich nannte ihn nie Vater. Er war nicht mein Vater. Mein Vater war John gewesen, wenn auch nicht biologisch.
Justin nickte nur und wendete sich dann wieder dem Film zu. Ich war ihm dankbar dafür, da ich wirklich nicht weiter drüber reden wollte. Vielleicht war ihm das auch bewusst.

Nach eineinhalb Stunden Film wurde ich langsam müde. Es war kurz vor zwölf und ich merkte, wie ich langsam anfing einzuschlafen. Dabei war Justin doch noch hier..  

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