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12:54 Uhr

Sein Herz rast.

Es rast so schnell wie der Idiot über die Ampel. Es rast so schnell wie das Blut im Körper des Getroffenen. Es rast so schnell wie die kollabierende Welt der Betroffenen. So schnell wie das Kopfkarussel der Unschuldigen.

Sein Herz rast so schnell wie die Sirenen und Blaulichter in der Ferne.

Sein Herz rast zu schnell.

Der Schock hat es in einen Sprintmodus versetzt, dem es nicht mehr entkommt. Es kommt ihm vor als würde es immer schlimmer, immer schneller.

Er ist alt.

Zu alt für diesen Sprint seines nachlassenden Herzens. Es ist zu schwach für Extremleistungen. Für ein solches Herzrasen.

Seine faltigen Finger umklammern das Lenkrad so fest wie er nur kann, die müden Knochen drohen zu zerbersten. Ein stechender Schmerz sitzt tief in seinem Zentrum.

Er weiß genau, was das für ein Schmerz ist.

Eine unabschüttelbare Starre kriecht langsam auf ihn zu und lechzt nach seinen Gliedern. Eine durstige Enge, greift nach dem Fluss seines dicken Blutes.

Er hat sein Letztes gegeben als er mit aller Wucht mit, durch sein Alter bedingt, verlangsamter Reaktion auf das Bremspedal trat. Schon dabei durchfuhr ein unangenehmer Schmerz sein Bein.

Er war nicht mehr geschaffen für solch eine Situation. Er war verjährt. Ungefasst. Zu instabil.

Er hätte die Gefahr schon eher erkennen müssen. Der Idiot war kaum zu übersehen. Doch seine alten Augen zeigten ihm schon lange nicht mehr das, was er zu sehen brauchte. Seine Brille taugte noch kaum etwas.

Er hatte nur auf den leuchtenden Pfeil geachtet, der ihm, dem Linksabbieger, eine freie Fahrt gewährte. Grünes Licht.

Doch das Licht war Rot.

Es war so rot wie eine aggressive Warnung, so rot wie ein markerschütternder Schrei, so rot wie das Blut, das aus den Wunden floss, so rot wie die Sirenen, die immer lauter wurden und sich zu vermehren schienen.

Er sah das rote Licht nicht. Er sah nur Grün. Er sah den Idioten nicht. Er sah nur Grün.

Dann fing sein Herz an zu rasen, direkt nachdem es ausgesetzt hatte und er sich selbst nicht mehr sicher war, ob es je wieder schlagen würde. Doch als er mitten auf der Kreuzung zum Stehen kam, spürte er, wie sein Herz die Arbeit wieder aufnahm.

Und plötzlich wurde alles so still und irgendwie schwankend und sein Herz wurde immer schneller, schneller als sonst und seine tauben Hände, aus denen all Wärme wich, verkrampften sich so wie er selbst und ein grausamer, stechender, ziehender Schmerz konzentrierte sich mitten in seiner Brust.

Es fühlt sich an, als würde alles zusammenschrumpfen, eine Enge entsteht, aus der er sich nicht mehr herauswinden kann, er wird darin gefangen.

Sein Herz rast so schnell wie noch nie.

Seine Lunge ist wie blockiert, er schnappt nach Luft und verliert sie immer wieder für einen kurzen Augenblick.

Sein Herz rast und rast, flehend nach dem Blut, das es durch seinen Körper pumpen kann, um seinen Zustand zu normalisieren.
Seine  Gefäße sind verengt, der Schock schlingt sich fest um sie herum und verschließt sie fast komplett. Es gibt kein Entrinnen.

Sein Herz rast und rast weiter, der Schmerz bleibt und sitzt tief, alles ist steif, alles ist eng, die Luft ist dünn.

Die Sirenen werden lauter, sie sind fast am Ziel.

Nun ist der Linksabbieger auch eines.

Denn sein Herz rast und rast und rast wie die Sirenen der Zeit.

Sie haben keine Zeit mehr.

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