12:49 Uhr
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Er hat sieben Jahre Fahrerfahrung. Doch er fährt wie der letzte Penner.
Can you save my bastard soul?, brüllt die luxuriös ausgestattete Anlage seines Mercedes.
Er hat die Fenster weit geöffnet, der Windzug strömt durch seine Innenausstattung und krault seine Haare. Die Wärme der Sonnenstrahlen kann er auf den Hautpartikeln seines linken Armes spüren, den er wie ein treuer Macho auf dem Fenster abgelegt hat. Er bedient das Lenkrad mit zwei Fingern. Er kann es schließlich.Die Straßen sind angenehm grau, der Verkehr wie immer lästig und das Wetter unterstützt seinen Hype. Er fühlt sich fantastisch.
Er weiß nicht, dass er in wenigen Sekunden exakt drei Leben ruinieren wird.
I'm sorry brothers, so sorry lover. Forgive me father, I love you mother.
Er nähert sich der nächsten Kreuzung, sie ist gut befahren, Fußgänger tummeln sich wie Ameisen rundherum. Es liegen noch gut 355 Meter vor ihm, die Ampel leuchtet grün. Sie gewährt die Durchfahrt.
Er fährt auf der mittleren Spur, rauscht an den anderen Verkehrsteilnehmern links und rechts vorbei. Er bemerkt das langsamere Fahrzeug vor sich, dem er immer näher kommt. Noch 282 Meter.
Als er den Sicherheitsabstand von zwei Fahrzeugen längst überschritten hat, reagiert er erst auf das längliche Schild in der Heckscheibe. FAHRSCHULE
Es ist ihm zu blöd. Er hat Zeit, doch er will sie nicht haben. Er setzt zu einem Überholungsmanöver an. Noch 189 Meter.
Er wechselt unbedacht auf die linke Fahrspur, er setzt keinen Blinker, er verliert nicht einmal einen Blick in einen seiner Spiegel. Er ist der Idiot.
Er hat Glück, dass sein Hintermann die Gefahr rechtzeitig erkennt und abbremst als er, der Idiot, rücksichtslos nach links ausschert. Sein Hintermann hupt wild, doch dem Idioten ist das keine Warnung. Alles was er hört ist die Stimme seiner Anlage, alles was er sieht ist die Ampel vor ihm. Noch 146 Meter. Die Ampel wechselt ihre Farbe. Es wird Gelb.
Can you hear the silence?
Er ist mit 73 Sachen unterwegs, auf einer Fahrbahn, die maximal 50 erlaubt. Doch er hat keinen Blick für das Verkehrsschild vor 368 Meter übrig gehabt.
Die Ampel schaltet rot. Es liegen noch 97 Meter vor ihm. Das schafft er noch. Er kommt noch rüber. Er beschleunigt auf 81 Sachen.
Seine Fahrbahn ist frei. Er ist der erste und der letzte. Was er nicht ahnt: die Links-Abbieger sind an der Reihe. Einschließlich die des Gegenverkehrs.
Noch 53 Meter. Das ist ein Klacks. Die Distanz hat er in weniger als 3 Sekunden hinter sich gebracht, denkt er. Die Ampel ist seit 2 Sekunden auf warnenden Rot. Doch ihre Warnung rauscht an ihm vorbei.
Der Gegenverkehr setzt bereits zum Abbiegen an. Sie durchkreuzen seine Spur. Noch 12 Meter. 97 km/h. Er erkennt endlich die Situation.
Plötzliches und lautstarkes Autohupen, der Gegenverkehr und sein endlich funktionierendes Gehirn, weisen ihn auf die Katastrophe hin. Er hat das Gefühl von allen beobachtet zu werden, das Gefühl als würde seine Welt bis auf diesen Fleck Kreuzung zusammenschrumpfen.
In viereinhalb Sekunden wird er den Fußgänger auf der rechten Seite erfassen.
Plötzlich schwirrt sein Kopf, sein Herz rast wie sein Motor, auf die Idee zu bremsen, kommt er nicht. Die Kugel ist gelandet. Schwarzes Feld. Das Spiel ist aus.
Can you see the dark?
Er kann nicht mehr reagieren, er ist überfordert. Von überall her kommen Geräusche, der Moment nimmt ihn wie ein lästiges Insekt zwischen seine Finger und zerquetscht ihn. Erbarmungslos.
Er ist 37 Meter drüber. Der erste Linksabbieger bremst heftig ab, als er schon auf der Hälfte der Fahrbahn ist. Er selbst ist handlungsunfähig und für einen Moment denkt er, der Idiot fährt frontal auf ihn zu.
Doch der Idiot vollbringt noch eine letzte Reaktion. Von Panik am Kragen gepackt reißt er das Lenkrad herum, so weit nach rechts wie er es in seinem Schock hinbekommt.
Doch mit dem Versuch das eigene Leben zu retten, zerstört er drei. Zwei weitere werden tragische Konsequenzen erleiden müssen.
Zwei Füßgänger stehen an der Ampel, schockgeweitet sind ihre Gesichter. Er ist gefroren. Sie schreit auf. Der Idiot hat mit 43 Metern all seine Grenzen überschritten.
Er versucht es endlich mit der Bremse. Doch die Chancen sind vorbei. Das Glück ist kein drittes Mal bei ihm. Er hat zu viel riskiert. Er wird dem Schicksal überlassen.
Er brettert mit einer gewaltigen Wucht gegen den Mast der Füßgängerampel. Von 78km/h auf 0.
Er hat sein Leben und das Leben anderer riskiert. Für eine hirnrissige, egozentrische, unüberlegte und lächerliche Aktion.
Er hat riskiert. Und er nimmt.
Er trifft nicht nur die Ampel. Er rast zuvor in einen der beiden Fußgänger. Sein Überholmanöver führte zum Ausweichmanöver führte zur Kollision.
Es ist ihr Mann. Er registriert zu spät die Gefahr, die auf ihn zukommt, er hatte bis vor zweieinhalb Sekunden nur Augen für seine Freundin, auch wenn sie zu weit weg steht, um sie jetzt berühren zu können. Er hat die falsche Seite der Ampel gewählt, er wollte doch ihre Hand halten. Warum hatte er es nicht getan? Warum immer, und warum ausgerechnet in diesem Moment nicht?
Sein Körper ist wie aus Stein gemeißelt, alle Funktionen seines Körpers versagen ihm den lebensnotwendigen Dienst. Er hört die Schreie seiner Freundin nicht, er spürt seine Beine nicht, sämtliche kognitive Prozesse wurden eingestellt.
Das Spiel ist aus.
Ehe er wahrhaftig reagieren kann, wird er längst erfasst. Der Mercedes schubst ihn mehrere Meter weit zurück.
Das Spiel ist aus.
Der Idiot knallt mit der Stirn gegen sein Lenkrad. Der Fußgänger knallt auf den Aspahlt. Blut strömt aus beidermanns Wunden.
Schreie, Tränen, Hupen, Schritte, Blut.
Die Anlage heult noch immer.
Can you fix the broken?
Niemand kann die Situation begreifen. Der Idiot ist wie gelähmt. Die Freundin des Erfassten tränenüberströmt. Der Erfasste blutüberströmt. Jemand wählt den Notruf.
Das Spiel ist aus. Die Kugel ist gelandet.
Schwarzes Feld.
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REVOLVER
Short StoryEin Idiot, der die Grenzen kennt und sie unbekümmert überschreitet. Und damit nicht nur auf sich selbst zielt, sondern auch auf alle anderen. Er hält den Revolver in der Hand - und trifft 5 Mal hintereinander. Inspiriert nach einem wahren Erlebnis...