Kapitel 1

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Manchmal erscheint es mir, als würden die Abgründe in meinem Herzen sich aller Schwärze der Nacht bemächtigen und die schlummernden Dämonen zum Leben erwecken. Manchmal erscheint es mir, als wäre mein Herz selbst meine Trauerstätte, die sich jedoch vor mir verschließt, wenn ich mich zurückziehen möchte. Als würde mir verboten, Zuflucht in meiner Selbst zu finden. Warum?

Und dann dieser ewige Kampf. Mit blutgetränkten Krallen gehen sie auf einander zu. Immer von neuem, eine nie endende Schlacht. Mit prickelnden Gliedern und schwerem Blick holen sie aus. Und die Einsamkeit gewinnt. Ein weiteres Mal. In quälender Unendlichkeit heißt meine schmerzende Brust sie willkommen, wie einen lang gekannten Freund.

Wie werde ich wieder Herr meiner Selbst? Darf ich das überhaupt? Vielleicht ist es die Rache der in mir schlummernden Dämonen. Vielleicht ist es auch Fürsorge, ihre Art zu zeigen, dass Kontrolle nicht alles ist. Doch werde ich wieder aufstehen können? Noch einmal?

Schweißgebadet lag ich in meinem Bett und zitterte. Meine Haut glühte und mein Atem ging so schnell, als wäre ich kilometerweit gerannt. Trotzdem fror ich. Mit einer schwachen Geste wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Ich hatte nicht geträumt, nicht wirklich. Ich brauchte nur die Augen zuzumachen und schon verschlang mich die Dunkelheit. Doch das war nichts. Nichts im Vergleich zu dem Wissen, dass es meine Dunkelheit war. Sie kam nirgendwo anders her- Dieser Ort des Schreckens, der mich immer wieder in seinen Bann zog, war ein Teil von mir. Und so sehr ich ihn auch hasste, er verschwand nicht.

Ich schaute auf die Uhr. Drei Uhr nachts. Ein genervtes Seufzen entglitt mir. Noch so früh! In dem Wissen, dass ich nicht noch einmal einschlafen würde, setzte ich mich langsam auf. Sehr langsam. Das war wichtig. Denn seit genau vier Jahren litt ich unter heftigen Schwindelanfällen. Warum, wusste keiner. Mit einer solchen Anfälligkeit war ich natürlich gefundenes Fressen für den Forschungswahn aller Ärzte. Ich wurde praktisch zu ihrem Experiment. Doch ganz gleich, was sie mir verschreiben, es wurde nicht besser. Sie schickte mich sogar schon zum Psychologen, weil ihre letztem schon fast hoffnungslose Diagnose war, die Schwächeanfälle wären Folgen eines Traumas, welches ich nur mit „professioneller Hilfe" überwinden könne. Nicht, dass ich diese professionelle Hilfe abtun würde, ganz und gar nicht. Sie konnte äußerst nützlich und heilsam sein, aber nicht für mich. Ich brauchte sie nicht. Ich litt unter keinem Trauma. Zumindest noch nicht. Doch das glaubte mir ja keiner. Nicht meine Ärzte, nicht meine beste Freundin und auch nicht meine überbesorgte Mutter. Manchmal ertappte ich mich sogar selbst dabei, wie ich der „Sie-leiden-unter-einem-Kindheitstrauma-und-Sie-tun-mir-so-leid-Diagnose" Glauben schenkte.

Mich auf den Atem konzentrierend, erhob ich mich von der Bettkante. Ich zitterte immer noch.

Auf Zehenspitzen tapsend, um auch ja keine Geräusche zu machen, ging ich ins Bad, zog mich aus und stellte mich unter die Dusche. Doof nur, dass ich weder kaltes noch warmes Wasser brauchte. Ich brauchte beides. Gleichzeitig. Doch die Brause war angesichts meines widersprüchlichen Bedürfnisses ratlos und gewährte mir keine Erlösung.

Als ich fertig war, kuschelte ich mich wieder i meinen Pyjama und band meine hüftlangen, feuerroten Haare zu einem Knoten zusammen. Gerade wollte ich mein Spiegelbild näher betrachten, als ich auch schon aus dem Augenwinkeln die dunklen Ringe unter meinen Augen sah. Schnell blickte ich weg. Ich war nicht sicher, dass ich unbedingt sehen wollte, wie fertig ich aussah.

Ein Geräusch, das klang, als ob jemand etwas fallen gelassen hätte, ließ mich zusammenzucken. Was war das? Ich trat aus dem Bad und ging in die Richtung, aus der ich das Geräusch vermutete. Es war mein altes Kinderzimmer, das nun meiner Mutter als – man beachte den ironischen Unterton – Gurureich diente.

„Ma?", flüsterte ich und öffnete die Tür, ohne zu klopfen. Sie drehte sich nicht um, auch wenn ich mir sich war, dass sie mich hörte. Ihr Beine waren im Lotussitz verschränkt (ich wusste immer noch nicht, wie sie das aushielt) und ihre Hände ruhten auf ihren Knien. Alles, was ich von ihr sehen konnte, war ihr Rücken und ihr rotbraunes Haar, was im Schein der vielen Kerzen, die in einem Kreis um sie herum platziert waren, kupfern leuchtete und ein Magnet für die vielen tanzenden Flammen zu sein schien.

Die Chroniken der Feuerwölfe - Die Verstoßenen (#Wattys2016)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt