Es ist Freitag die siebte Stunde.
Der Treffpunkt liegt im vierten Stock.
Mit letzter Kraft schleppe ich mich ins Klassenzimmer der 10b.
Die Tür ist sperrangelweit offen, sodass ich schnell hinein husche.
Die Tische sind an die Seite geschoben worden und in der Mitte stehen zehn Stühle.
Angeordnet in einem Kreis.
Wie im Kindergarten.
"Hallo Carolin, setz dich schon mal!" , ertönt es hinter mir.
Herr Stempf erscheint und zeigt auf einen der Stühle.
Ich nicke und lege meine Tasche neben mich auf den Boden.
"Da sind auch schon die anderen!" , sagt Herr Stempf erfreut und klatscht einmal in seine Hände.
Zwei Jungen kommen durch die Tür und begrüßen mich mit einem freundlichen Lächeln.
Ich mustere sie genauer.
Beide haben strohblondes Haar und sehen sich ähnlich.
Ich tippe auf Brüder.
Der eine um die siebzehn, der andere vielleicht fünfzehn.
Ich grüße zurück und der kleine Bruder setzt sich neben mich.
Dann verfalle ich wieder in ein gewohntes Schweigen.
Was soll man auch schon viel sagen?
Nach ein paar Minuten Stille kommen wieder zwei Leute durch die Tür.
Ein hageres Mädchen mit roten Haaren, Sommersprossen und viel zu großen Klamotten und ein Junge auf dessen Stirn ein großes fettes schwarzes M prangt.
Die beiden setzen sich etwas schüchtern zu uns und das Schweigen geht weiter.
Herr Stempf verschwindet kurz nach draußen und kommt nach ein paar Minuten mit einer Kerze wieder.
Ich frage mich was er mit einer Kerze will.
Es ist Sommer.
Die Sonne scheint.
Ich schüttele meinen Kopf und ein Mädchen leistet uns Gesellschaft, welches mir sehr leid tut, da ihr Gesicht von Pickeln überseht ist.
Clerasil besiegt eben nicht alles.
Sie lässt sich ebenfalls stumm auf einen der Stühle nieder, sodass man in dem Klassenzimmer immer noch jedes klitzekleine Geräusch hören kann.
Wirklich.
Ich kann meinen Nachbarn sogar atmen hören.
Aber das Schnaufen wird von einem lauten Hallo unterbrochen, denn der Rest trödelt ein.
Ein recht unscheinbarer Junge mit braunen Haaren, ungefähr sechzehn Jahre alt.
Ein weiterer Junge, der sehr feminin scheint, da er geschminkt ist und selbstbewusst ein rosa Spitzenshirt trägt und ein Mädchen, ebenfalls um die sechzehn Jahre, mit einem grauen Top, bei dem der Ausschnitt so groß ist, dass es nur eine falsche Bewegung braucht und ihre beiden Freundinnen rausfallen.
Herr Stempf zündet die Kerze in der Mitte unseres Kreise an und nimmt nun auch Platz.
"Ich freue mich, dass alle da sind, dass ihr euch für dieses Wahlfach entschieden habt!"
Er macht eine kurze Pause und grinst über beide Backen.
"Das Wahlfach für einen sozialen Austausch und der Stärkung des Selbstbewusstseins und der eigenen Fähigkeiten!"
"Aber ich nenne unseren Stunden einfach Proud - Kurs!" , fügt er hinzu.
Ist das sein Ernst?
Stärkung des Selbstbewusstseins?
In diesem Wahlfachangebotszettel stand einfach nurProud - Kurs : Kurs für interessierte Schüler, die sich gerne austauschen.
Dauer : halbes Jahr alle zwei Wochen.
Beginn : zweites Halbjahr
Wochentag nach Vereinbarung.Aber, dass das so ein sozial Kack ist, stand nicht drinnen.
Außerdem musste ich ein Wahlfach nehmen.
"Carolin du musst mindestens fünf erfolgreiche Wahlfächer abschließen."
Das hatte diese blöde Sekretariatstante gesagt, die der Teufel höchst persönlich auf die Erde geschickt hat.
Und da mir noch ein mickriger Punkt fehlte, hatte ich mich zu diesem Kurs entschlossen.
Diese kurze Dauer hat mich verführt.
"Zuerst würde ich gerne wissen, warum ihr euch für diesen Kurs entschieden habt!"
Herr Stempf lächelt das pickelige Mädchen an.
"Also ... ich ... mach ... mit ... weil ... ich ... das interessant finde ... den Kurs ... !" , stottert Pubertät.
Ich finde den Namen sehr passend.
"Vielleicht sollten wir uns alle erstmal vorstellen!" , schlägt der Junge neben Pubertät vor.
Er sieht schon sehr weiblich aus.
"Ja , das ist richtig!"
Herr Stempf grinst Pubertät wieder an.
"Ich heiße Lisa!"
Ich werde sie weiterhin Pubertät nennen. Lisa klingt so langweilig.
"Also ich bin Luca und wollte ebenfalls mal etwas neues ausprobieren!"
Von der Tonlage klingt er deutlich männlicher.
Ich nenne ihn einfach Gender.
Neben Gender sitzt der Junge mit dem M auf der Stirn.
"Also ich heiße Tobias und ich wollte auch mal was neues ausprobieren!"
Ist ja klar.
Das Angebot war so spannend.
Das hat rein gar nichts mit der Dauer zu tun.
Als ob!
Und warum hat er ein fettes M auf der Stirn?
M ... M ... M wie Magnum.
Magnum passt definitiv besser.
Aber nicht wie Magnum Infinity, welches ständig als Werbung im Kino gezeigt wird, eher wie das Klassische, das man an jeder Tankstelle bekommt.
"Ich bin Finn!" , stellt sich der Junge neben Magnum vor und reißt mich damit aus meinen eiskalten Gedanken.
"Und warum machst du bei uns mit, Finn?" , fragt Herr Stempf.
"Eigentlich dachte ich ... dass das hier eine Art Jugendtreffen ist!"
"Das ist es auch!"
"Als ob Sie mit uns jetzt über Serien und Spiele reden!"
"Naja ... wir können sicherlich mal eine Stunde über Serien quatschen!" , antwortete Herr Stempf verdutzt.
"Ich schaue mir aber sicherlich andere Serien wie Sie an. Keine Tierdokus oder Gute Zeiten schlechte Zeiten und erst recht nicht Shopping Queen!"
"Und was schaust du dir so an?" , fragt Magnum.
"Game of Thrones, die geilste Serie überhaupt!"
"Nun gut ... damit bin ich jetzt wirklich nicht sehr vertraut ... aber wir können trotzdem drüber reden, irgendwann mal!" , schlägt Herr Stempf etwas verwirrt vor.
Finn nickt zufrieden.
Finn ... bei mir heißt er GoT.
"Also ich bin Tina und dachte auch, dass es sich hier um einen Jugendtreff handelt. Aber ich bin offen für neues!" , grinst Oberweite.
Sie trägt übrigens einen schwarzen BH mit Spitze.
"Also ich bin Steffi. Ich finde diesen Kurs einfach sehr interessant!" , flüsterte sie.
Ihre roten Haare verdecken ihr Gesicht und sie sieht krank aus.
Krank und dünn.
Wie ein Hungerhaken.
Der perfekte Name.
Dann richten sich alle Blicke auf mich.
"Ähm ... ich bin Carolin und ... fand das ... Angebot auch ... sehr spannend!"
Fand, bis ich bemerkt habe, dass es sich eher um einen Selbsthilfekurs handelt.
Aber egal.
"Ich bin Tom!"
"Und ich bin Moritz!" , wirft der kleine Bruder ein.
"Wir sind Brüder und wurden von unserer Mutter hier hin geschickt!" , erklärt der große Bruder.
Was ist dass denn für eine Mutter?
Wahrscheinlich so eine Übermutter ... oder eine Helikoptermama.
Sie legt ihnen sicherlich auch noch die Kleidung raus und schmiert ihnen die Pausenbrote.
"Ich freue mich auf unsere gemeinsame Zeit!" , sagt er Herr Stempf.
Für ihn muss ich mir auch noch einen Namen überlegen.
"Nehmen wir uns an den Händen!"
Er steht auf und greift nach der Hand von großem Bruder und Pubertät.
Ganz langsam und etwas verstört greife ich ebenfalls nach der Hand meiner Nachbarn.
Ich merke, dass Hungerhaken eiskalte Hände hat und zittert.
Bei dem heißen Wetter ist das schon etwas seltsam.
Kleiner Bruder hingegen schwitzt, sodass meine Hand ganz nass wird.
"Also als erstes schließen wir unsere Augen!" , summt Herr Stempf.
Ich starre ihn komplett fassungslos an.
Bin ich eine Biene in einem Yogakurs?
Nein!
Also bleiben meine Augen offen.
DU LIEST GERADE
Proud
Ficção AdolescenteProud-Club klang richtig gut, als ich das Angebot auf meinem Wahlfachzettel las. Und nun stehe ich Händchen haltend in einem Kreis und versuche meinen inneren Frieden zu finden. Gar nicht so einfach, denn meine Kameraden haben so ihre Macken, mit de...