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"Miss Haze, was haben Sie sich nur dabei gedacht?"

Der Mann hinter dem Schreibtisch sah mich tadelnd an.

Statt einer Antwort presste ich nur die Lippen aufeinander und ballte meine Hände so fest zu Fäusten, dass sich meine Fingernägel in meine Handballen bohrten. Ich durfte jetzt keinen Wutausbruch bekommen. Das würde zu nichts führen. 

Und es war nichts, was eine Alpha tun würde. 

Andererseits war mir in den letzten Stunden mehr denn je klargeworden, dass ich gar keine Alpha mehr sein wollte.

Der Mann hinter dem Schreibtisch räusperte sich, doch zu einer Antwort konnte er mich damit nicht bewegen. Was wollte er denn noch von mir hören? Er hatte doch dank der Kameras vor der Klotür schon alles mitbekommen, was wir gesagt hatten, weil wir zu laut gesprochen hatten; das hatten sie mir gleich nach meiner Festnahme in aller Ausführlichkeit erklärt. Mit einer gewissen Genugtuung und dem gleichen Maß an Abscheu hatte ich festgestellt, dass sie mich dank meiner Stellung als Alpha noch immer mit einem gewissen Respekt behandelten. 

"Miss Haze", wiederholte mein ehemaliger Auftraggeber mit schneidender Stimme meinen Namen.

"Wo ist Jase?", fragte ich statt einer Antwort. Ich war selbst überrascht davon, wie ruhig und beherrscht meine Stimme klang; innerlich zitterte ich nämlich vor Nervosität.

Nun war es der Mann hinter dem Schreibtisch, der die Lippen aufeinander presste, bis alles Blut aus ihnen wich. Zuerst glaubte ich, er würde mir keine Antwort geben, doch dann sagte er: "Ihr Komplize konnte entkommen. Wir suchen derzeit überall nach ihm."

"Sie werden ihn nicht finden", sagte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm. Ich wollte, ja, ich musste glauben, dass Jase entkommen konnte. Dass er nicht zu einem Alpha gemacht werden würde. Oder Schlimmeres. 

"Und wieso sind Sie sich dessen so sicher?" In den Augen meines Gegenübers, in denen bisher purer Abscheu gelegen hatte, zeigte sich nun Neugier. Sie versuchten ganz klar, aus mir herauszubekommen, wo sich Jase versteckte. Dumm nur, dass ich das selbst nicht wusste. 

Oder nein, es war gut. Gut für Jase. 

Und vielleicht auch für mich. 

Ich antwortete nicht auf die Frage, die der Mann hinter dem Schreibtisch mir gestellt hatte, aber nicht, weil ich nicht antworten wollte, sondern weil ich mir eine Antwort überlegte. Ich musste bluffen, um Jase zu schützen, so viel war mir klar. Doch ich wusste ja selbst nicht mal, wo er sich aufhielt. Was, wenn ich gerade den Ort nannte, wo er sich versteckte?

"Sie wissen doch etwas, Miss Haze. Das sehe ich Ihnen an." Der Mann, der mir gegenüber saß, hörte sich nun beinahe triumphierend an. Er hatte keine Ahnung, dass ich kurz davor stand, ihn und seine Leute anzulügen. 

Eine Lüge, die mich das Leben kosten könnte. 

Allerdings wartete auf mich ohnehin die Todesstrafe, wie die Wachmänner, die mich festgenommen hatten, hatten durchblicken lassen. Dann konnte ich genau so gut Jase schützen. 

"Denken Sie wirklich, ich verrate Ihnen das?", fragte ich mit schneidender Stimme. Ich war eine gute Schauspielerin. Immer gewesen. Und nun froh darüber. 

Mein Gegenüber trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte vor ihm. "Wir haben unsere Mittel und Wege, es aus ihnen herauszubekommen."

Ich tat mein Bestes, damit er mir meine Angst nicht ansah. "Sie töten mich ja sowieso. Und Folter ist gegen das Gesetz. Was wollen Sie also tun?"

"Gegen das Gesetz!", spottete er. "Wissen Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben? Das Gesetz hat mich nicht zu interessieren."

Ich schluckte hörbar. "Gut. Ich verrate es Ihnen. Unter einer Bedingung."

Mir war klar, auf was für dünnem Eis ich mich bewegte. Doch ich brauchte noch Zeit, um mir einen möglich-unmöglichen Ort auszudenken, wo Jase sich verstecken konnte. Noch hatte ich nämlich keine Ahnung und wenn die rausfanden, dass ich sie anlog ... Diese Erfahrung wollte ich lieber nicht machen. 

"Jetzt stellst du auch noch Bedingungen!" Es missfiel mir, dass der Mann hinter dem Schreibtisch mich nun plötzlich duzte.

Ich reckte mein Kinn hoch. "Ja, genau, das tue ich. Die Informationen, die ich habe, sind nämlich von höchster Wichtigkeit für Sie."

"Sie glauben also, wir finden ihn nicht so oder so? Alles, was Ihre Informationen uns bringen können, ist ein wenig eingesparte Zeit."

Ich wusste, dass er bluffte, genau wie ich. 

"Nein. Meine Informationen sind ungeheuer wichtig und das wissen Sie genau so gut wie ich. Ohne meine Hilfe werden Sie ihn niemals finden", log ich, während ich fieberhaft überlegte, wo sich Jase auf keinen Fall verstecken würde. 

Bis mir etwas einfiel. 

Ja. 

Genau. 

Das war es. 

"Wir brauchen uns dennoch auf keinen Deal mit Ihnen einzulassen, Miss Haze. Wir holen uns die Informationen, die wir brauchen."

Ich seufzte in gespielter Resignation. "Gut. Sie haben gewonnen. Er ... Nein." Ich verzog das Gesicht, als würde es mir beinahe körperliche Schmerzen bereiten. "Er versteckt sich in meinem alten Zuhause. Meine Familie hat ihm Zuflucht gewährt."

Auf dem Gesicht meines Gegenübers breitete sich ein grausames Lächeln aus, als er sich zurücklehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. "Wissen Sie was, Miss Haze? Das ist eine sehr schöne Lüge. Dennoch glaube ich Sie Ihnen nicht. Wenn es mich auch ein wenig überrascht, dass Sie Ihre Familie tatsächlich für so etwas zu opfern bereit sind. Dass Sie bereit sind, ihnen solchen Ärger zu bereiten, ihnen eine Strafe aufzuhalsen, weil sie laut Ihnen einen Flüchtigen bei sich verstecken. Wo Sie doch so viel für sie getan haben."

"Ich lüge nicht", entgegnete ich mit bebender Stimme. "Wirklich nicht."
"Und das soll ich Ihnen jetzt glauben? Niedlich. Hören Sie, Miss Haze. Ich durchschaue Ihr Spiel. Ich habe es schon durchschaut, bevor Sie mich überhaupt getroffen haben."

Diesmal war mein Entsetzen echt. "Wie meinen Sie das?"

"Denken Sie wirklich, ich nehme Ihnen die Alpha-Nummer ab? Und glauben Sie ernsthaft, wir hätten Sie wirklich zur Überwachung von Jase Ryan eingesetzt?"


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