Meine Schwester Joy öffnete die Tür und Überraschung zeichnete sich auf ihrem schmalen Gesicht ab. "Mira? Du bist am Leben?"
Sie gab mir keine Zeit zu antworten, sondern fiel mir kurzerhand um den Hals. "Du lebst, du lebst, du lebst", quiekte sie.
Ich wand mich aus ihrer Umarmung. "Ich habe versagt, Joy. Ich habe Mom nicht gerettet."
Ihr Lächeln verschwand. "Das ist wahr. Aber der Arzt hat gesagt, dass man sie nicht mehr retten kann. Es ist nicht deine Schuld. Ich hätte den Test bestehen müssen. Dann hätte es gereicht. Aber ich bin so, so froh, dass wenigstens du am Leben bist."
Sie schlang erneut die Arme um mich, und dieses Mal ließ ich sie gewähren. Ich hatte sie vermisst, wurde mir jetzt bewusst. Ich konnte mich nicht wirklich freuen, sie wiederzusehen, aber ich war dennoch ein wenig froh, dass dieser ganze Mist vorbei war. An meiner Kleidung klebte Blut. Die Teile meines zerfetzten Herzens waren vom Wind in alle Himmelsrichtungen getragen worden und ich glaubte nicht, dass irgendein Mensch jemals dazu fähig sein sollte, sie wieder zusammenzusetzen. Nicht einmal Joy. Ich war verstört, verwirrt, völlig überrumpelt, und die Schuldgefühle schienen mit jedem Schritt, den ich tat, erdrückender zu werden, aber es war vorbei.
Ich würde den Rest meines Lebens als Gamma verbringen, mich dem System unterordnen und alles tun, was es von mir verlangte.
Mir wurde erneut übel bei dem Gedanken daran, auch wenn ich wusste, dass ich mich eigentlich freuen sollte. Ich war am Leben. Ich hatte diesen ganzen Mist überlebt.
Aber es war kein Sieg, sondern eine Niederlage.
"Mom wird so froh sein, dich noch einmal zu sehen, bevor sie stirbt", schluchzte Joy, die inzwischen in Tränen ausgebrochen war.
Ich stieß sie von mir weg, um ihr ins Gesicht sehen zu können. "Was? Mom ist tot!"
Joy schüttelte den Kopf. "Ist sie nicht. Sie geht nur nicht mehr zur Therapie, die ihr Leben angeblich verlängern soll, weil sie nicht glaubt, dass es funktioniert. Sie hat mir gesagt, ich soll den Leuten dort mitteilen, dass sie gestorben ist, damit sie sie nicht bedrängen und ihr das Geld aus der Tasche ziehen."
"Dann lebt sie noch? Ich kann sie sehen?"
"Kannst du." Meine Schwester lächelte, das Gesicht tränennass. "Jetzt gleich."
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"Mira?"
Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, als ich das Zimmer meiner Mutter betrat. Es war dunkel; die Vorhänge waren zugezogen. Meine Mutter lag in ihrem Bett. Sie lächelte, doch man sah ihr auf den ersten Blick an, wie krank sie war. Ihre blasse Haut sah beinahe aus wie Papier und rote Flecken hatten sich darauf ausgebreitet. Ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen und sie hatte die Decke beiseite geschlagen, sodass man ihren dünnen Körper sehen könnte. Ich erschrak bei dem Anblick. Mom war schon immer dünn gewesen, wie alle Gammas, doch nun sah sie aus als hätte sie seit Wochen kaum Nahrung mehr zu sich genommen.
"Mom", flüsterte ich leise. "Es tut mir leid."
"Es muss dir nicht leid tun. Du konntest mich nicht retten. Und auch Joy konnte das nicht, obwohl sie es fest behauptet. Sie sagt immer, sie hätte es versucht, aber das ist nicht wahr. Damals ... damals war ich noch nicht so krank als dass man hätte sehen können, dass es lebensbedrohlich ist." Ihre Stimme war leise und rau. "Ich bin einfach nur froh, dass du am Leben bist."
"Ich habe versagt, Mom."
"Ich habe dir gerade gesagt, dass ..."
"Nein", unterbrach ich sie. "Das habe ich nicht gemeint. Egal. Ich kann dir jetzt nicht davon erzählen."
Sie sah mich gutmütig an. "Wie du willst. Aber ich möchte dir danken."
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich immer noch im Türrahmen stand. Ich trat näher an Mom heran und setzte mich auf die Kante ihres Betts. Sie nahm meine Hand. Meine Mutter schien um Jahre gealtert zu sein in den wenigen Wochen, die ich sie nicht gesehen hatte, aber sie hatte immer noch das gleiche warmherzige Lächeln und der Griff ihrer mit von Schwielen vom vielen Arbeiten übersäten Hand war so fest wie immer.
"Du hast es versucht, Mira. Und du hast dein Leben dabei aufs Spiel gesetzt. Danke. Ich kann dir nicht genug dafür danken, dass du es versucht hast", sagte Mom und mir traten Tränen in die Augen. Sie sollte mir nicht danken. Sie sollte wütend auf mich sein, mich beschimpfen, mich aus dem Zimmer jagen.
Und das war es, was ich verdiente. Das wurde mir immer mehr bewusst. Ich hatte genug davon, dass mir alle dankbar waren.
Also erzählte ich Mom die ganze Geschichte.
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Als ich fertig war, schwieg sie.
Eine Weile saßen wir einfach so da. Ich starrte den Boden an und wartete darauf, dass sie wütend wurde. Sie musste ja nicht gleich ausrasten, konnte sie in ihrem kranken Zustand wahrscheinlich gar nicht, aber zumindest ein Verziehen ihres Gesichtes, ein "Ich bin enttäuscht von dir", irgendetwas ...
Es kam nicht.
Sie seufzte einfach nur. "Mira, ihr Blut klebt nicht an deinen Händen. Diese Peilsender sind so klein und so modern, dass du die Stelle wahrscheinlich mit der Lupe hättest untersuchen müssen, um da als Amateurin in diesem Bereich einen Unterschied zu erkennen."
Ich seufzte. "Aber Mom ..."
"Nichts aber. Du hast nichts falsch gemacht." Sie öffnete den Mund, um noch mehr zu sagen, musste aber aufhören, weil sie von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Blutspritzer landeten auf ihrer Kleidung, rote Flecken auf schmutzigem Grau.
Ich stand auf und wollte das Zimmer verlassen, weil ich meine Mutter gut genug kannte um zu wissen, dass ihr Zustand ihr peinlich war, doch kurz bevor ich die Tür erreichte sagte sie noch einmal meinen Namen.
"Und Mira ... bitte vergiss nie, was wirklich wichtig ist."
"Was ist denn wirklich wichtig, Mom? Was soll ich nicht vergessen?", fragte ich. Ich hatte mich an diesen Rat erinnert, immer wieder, ihn im Kopf umhergewälzt, doch er hatte selten wirklich einen Sinn ergeben. Warum war das meiner Mutter so wichtig?
Doch von meiner Mutter kam keine Antwort. Sie hustete so stark, dass sie nicht mehr sprechen konnte.
Ich wartete noch einen Moment, dann verließ ich den Raum und es fühlte sich an als wäre meine ganze Welt innerhalb weniger Stunden in sich zusammengefallen.
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Fake
Science FictionEine kleine Stadt, irgendwo im Europa der Zukunft. Um die Ordnung in der Gesellschaft zu wahren, werden die Menschen nach Aussehen, Charakter und Talenten in drei Klassen eingeteilt werden. Ein Test im 16. Lebensjahr entscheidet darüber, welcher Kla...