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Mein uralter Wecker riss mich mit seinem ohrenbetäubend schrillen Ton aus dem Schlaf. Kurz fragte ich mich, wann ich heute bei der Arbeit sein musste, doch dann fiel mir ein, dass heute kein normaler Wochentag war.

Heute war der erste Tag des Tests.

Am liebsten hätte ich mir wieder die Decke über den Kopf gezogen und so getan, als würde ich schlafen. Aber natürlich ging das nicht. Also quälte ich mich aus dem Bett und zog hastig das graue T-Shirt und die Jeans in derselben Farbe an, die wir aus der Klasse Gamma heute alle tragen mussten. Jede Klasse hatte ihre eigene Farbe. Alpha hatte weiß, Beta hatte dunkelblau und Gamma dieses langweilige Grau, dieselbe Farbe wie der Beton unserer Häuser.

Ich wollte mich nicht über die triste Farbe meiner Kleidung beklagen; das hier war wohl die sauberste Hose, die ich je getragen hatte.

Im Bad warf ich einen prüfenden Blick in den Spiegel. Meine schulterlangen Haare waren gleichmässig blond, kein verräterisches Braun zu sehen. Auch die blauen Kontaktlinsen saßen noch an Ort und Stelle.

Schnell putzte ich mir die Zähne, band meine Haare zu einem Pferdeschwanz und ging in die Küche, wo meine Mutter schon auf mich wartete. Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und eine Scheibe halbtrockenes Brot in die Hand, doch ich mochte nichts essen, zu nervös war ich.

Dennoch zögerte ich kurz. Es war respektlos, Essen abzulehnen, zumal wir nicht viel hatten.

Das Geräusch des vorfahrenden Busses nahm mir die Entscheidung ab. Ich gab Mom die Brotscheibe zurück. "Iss du es", bat ich sie. "Du brauchst es mehr als ich."

Die Krankheit zeichnete ihren Körper mit jedem Tag mehr. Als sie mich jetzt zur Tür begleitete, sah ich genau, wie schwer ihr jeder Schritt fiel. Trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, mich fest in die Arme zu schließen.

"Du schaffst das", flüsterte sie mit rauer Stimme. Ich konnte nur stumm nicken.

Ich war froh, als der Bus hupte und der Abschied nicht länger herausgezögert wurde. Schnell wand ich mich aus Moms Armen und schenkte ihr ein letztes Lächeln. "Ich komme ja wieder."

Sie lachte leise. "Daran habe ich keine Zweifel."



Meine beste Freundin Lia sass schon im Bus und hatte mir einen Platz freigehalten. Ich setzte mich hin und rang mir ein Lächeln ab.

"Nervös?" Lia wirkte so ruhig wie immer.

Ich schüttelte den Kopf. Wir beide wussten, dass ich log.

Als der Bus losfuhr, krampfte sich mein Magen zusammen und ich war froh, nichts gegessen zu haben. Vergeblich versuchte ich, nicht daran zu denken, was passieren würde, falls sie mich erwischten.

Die nächste halbe Stunde verlief unspektakulär, noch mehr Leute stiegen zu, doch dann wurden plötzlich die Rolläden vor den Fenstern heruntergelassen.

"Echt unheimlich", kam es von hinten.

"Hey Deanna", begrüsste ich das Mädchen, das ich von der Arbeit in der Fabrik flüchtig kannte.

"Hey", sagte auch Lia.

Was denkt ihr, wo bringen die uns hin?", wollte Deanna wissen.

Lia zuckte, wie immer entspannt, mit den Schultern. "Weiß nicht."
Ich sagte nichts, konnte nicht verhindern, dass mein Kopf sich weiterhin alle möglichen Horrorszenarien ausmalte.

Deanna senkte die Stimme und sah uns eindringlich an. "Es gibt sicher einen Grund dafür, dass sie die Rolläden heruntergelassen haben. Ich meine, wir wissen nicht, was die da mit uns machen."

"Ja, klar. Du hast zu viele Filme geschaut." Lia verdrehte die Augen. "Das ist wahrscheinlich eine reine Sicherheitsmaßnahme, damit niemand auf die Idee kommt, später dorthin zurückzukehren und den Test zu stören."

"Als könnte ich mir Filme leisten." Deanna schnaubte. "Nicht allen Gammas geht es so gut wie deiner Familie."

"Dann hast du eben zu viel Fantasie", entgegnete Lia, ohne auf Deannas Kommentar zu ihrer Familie einzugehen. "So, ich bin müde, weckt mich, wenn wir da sind."

Sie lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und war scheinbar schon bald eingeschlafen.

Auch ich bemerkte langsam, wie müde ich war; ich hatte fast die ganze Nacht über den bevorstehenden Test nachgedacht, statt zu schlafen. Meine schweren Augenlider siegten über meine Nervosität und auch ich fiel nach einigen Minuten in einen unruhigen, von Albträumen durchzogenen Schlaf.

FakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt