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"Ich hab eine Nachricht von der Schule erhalten, dass du gestern nicht da warst. Was war denn los?" Toby und ich saßen beim Frühstück. Er hatte angefangen mit Dingen wie 'Schönes Wetter heute' und 'Ich glaub wir müssen mal wieder was zusammen unternehmen' darauf hatte ich nicht geantwortet, weshalb er mir jetzt Fragen stellte. Wahrscheinlich hatte er ein schlechtes Gewissen, aber die Schuhe gab er mir trotzdem nicht wieder. Eigentlich war es albern, wie ich mich verhielt, aber er verhielt sich mindestens genauso albern und ich war die jüngere von uns beiden.
Um ihm zu zeigen, dass ich nicht mit ihm reden wollte, sah ich ihn an und aß einfach meine pappigen Cornflakes weiter.
"Hör mal, Em, ich kann verstehen, dass du sauer bist, aber ich hab dir eine Frage gestellt. Du sahst gestern echt krank aus und bist nicht in die Schule gegangen und da Mach ich bin natürlich Sorgen" versuchte mein Bruder es weiter.
Ich seufzte bevor ich antwortet, dann sagte ich "Hab mich nicht so gut gefühlt" stand auf und ging duschen.

Die Schmerzen waren tatsächlich besser geworden. Naja eigentlich waren sie von meinem Kopf und meinem Rücken runter in meine Beine und meinen Bauch gezogen, aber ich fand das war trotzdem besser als gar nichts. Ich schloss die Augen und ließ das kühle Wasser über meinen Körper laufen. Ich lauschte dem Rauschen, des Wassers und dem plätschern, wenn die Tropfen unten auf den Fliesen aufschlugen. Ich konzentrierte mich nur auf das, was ich hörte.
Ich hörte ein Tippen, als ob jemand eine Telefonnummer eingab und dann Tobys Stimme, die "Hallo, hier ist Toby Coleman, der Bruder von Emily Coleman" sagte. Eigentlich war es nicht so merkwürdig, dass ich Toby trotz des Rauschens hörte, das merkwürdige war, das ich die Antwort der Frau am Telefon klar und deutlich verstand und ich sofort begriff, dass es unsere Schul Sekretärin Mrs. Pince war.
"Guten Tag Mr. Coleman, ich nehme an Sie rufen wegen des Fehlens ihrer kleinen Schwester an?"
"Ja, genau. Sie ist zu Hause geblieben, weil sie krank war, aber ich denke sie wird heute wieder in die Schule gehen"
"Ok gut, ich werde das in ihrer Akte vermerken. Einen schönen Tag noch, auf Wiederhören"
Und dann hörte ich das Tuten von der anderen Seite der Leitung und wie Toby das Telefon wieder weglegte. Ich konzentrierte mich weiter. Ich hörte das tropfen von dem undichten Wasserhahn in der Küche und ich hörte wie unsere Nachbarin Klassische Musik hörte. Ich hörte das leise Pling was der Fahrstuhl machte, wenn er an einer Etage hielt. Je länger ich konzentriert lauschte, desto mehr Geräusche nahm ich war. Nach ein paar weiteren Sekunden konnte ich die Frau, die unter uns wohnte und für die Toby heimlich schwärmte unter der Dusche singen hören. Nach ein paar Minuten hörte ich, wie der dicke alte Mann, welcher über uns wohnte, aus seinem Bett aufstand und die Federn unter seinem Gewicht zusammendrückten und ein quietschendes Geräusche von sich gaben.
"Brauchst du noch lange, Emily?"
Tobys Stimme riss mich zurück, wie durch einen langen Tunnel, bis ich wieder nur das Rauschen und Plätschern der Dusche hörte. Ich drehte das Wasser ab, wickelte mich in ein Handtuch und verschwand in meinem Zimmer.

Auf dem Weg zur Schule spielte ich meinen Fähigkeit weiter aus. Ich hörte einen Taxifahrer einen Blog weiter, der hupte und jemanden lautstark beschimpfte, eine Frau in einem Hochhaus, die sich von einem Mann trennte und ein Kind, welches hinfiel und bitterlich anfing zu weinen und nach seiner Mom zu schreien.

Ich hatte mir zuerst sorgen gemacht, ob ich dem Unterricht vielleicht nicht mehr folgen könnte , aber wenn ich mich auf die Stimme meines Lehrers konzentrierte, war sie auf einmal das einzigste was ich hörte. Es war, als hätte ich einen imaginären Regler mit dem ich die Weite meines Empfangs einstellen konnte. Als uns unser Physik Lehrer gerade die Schwerkraft erklärte, testet ich wie weit ich kam. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Es war als würde ich die gesamte Stadt hören. Je weiter ich nach Außen Drang, desto schwerer wurde es auf einzelne Geräusche zu achten und allmählich vermischte sich alles zu einem lauten durcheinander, welches meinen Kopf zu sprengen schien. Doch dann kam ich an den äußersten Rand der Stadt und dann hinter die Mauer und auf einmal wurde alles wieder ganz klar. Ich verlor mich in dem Wind der durch das hohe Gras blies, in dem Zwitschern der Vögel und in dem leisen Plätschern eines Baches. Ich hatte das Gefühl auf dieser Wiese zu stehen, so genau sah ich all diese Dinge vor meinem inneren Auge, doch dann wurde ich durch etwas, was an meinen Kopf flog zurück gerissen und saß wieder nur in unserem Klassenraum. Als ich mich irritiert umsah entdeckte ich ein Papierkügelchen auf dem Boden und sah wie die Mädchen zwei Reihen weiter ihr Lachen in ihren Jacken erstickten. Es klingelte und unser Lehrer murmelte von etwas "und das ist der Grund warum ein Stift nicht einfach in der Luft schwebt" und packte zusammen. Ich ging an im vorbei, als er sich seine Tasche ungeschickt über die Schulter warf, wobei er seinen Kaffeebecher umkippte. Ich sah die Bewegung nur im Augenwinkel, aber ohne darüber nachzudenken schnellte ich herum und fing den Becher auf. Ich starrte völlig perplex auf meine Hand, die vor einer Sekunde noch an dem Trageriehmen meiner Tasche gelegen hatte und jetzt den Becher geschickt in de Hand hielt. "Oh, danke Mrs. Coleman! Gute Reflexe" sagte meine Lehrer und ich stellte den Becher immer noch total verwirrt auf den Pult meines Lehrers zurück.
Ich lief zu meinem Spind und dachte darüber nach, wie irreal das hier alles war und das so etwas eigentlich gar nicht möglich sein dürfte. Ich überlegte, ob das hier alles vielleicht nur ein Traum war und ich gleich wieder aufwachen würde und in meinem Bett liegen würde, doch es fühlte sich nicht an wie ein Traum. Ganz im Gegenteil ich fühlte mich wacher als je zuvor in meinem Leben.
Erst recht überzeugt, dass das hier wirklich passierte und kein Traum war wurde ich aber erst, als ich vor meinem Spind stand und plötzlich jeden Kratzer und jeden Fingerabdruck darauf erkennen konnte. Ich sah mich um und guckte auf das Schwarze Brett 'Schultheateraufführung am Samstag den 03.05. um 19:00 Uhr in der Aula' eigentlich war es nichts neues, dass ich das lesen konnte, das erstaunliche war, dass das schwarze Brett auf der anderen Seite vom Flur hing, ungefähr 200 Meter weit von mir entfernt. Während ich noch total fasziniert die Nachrichten auf der anderen Seite des Flurs laß, strömten die Schüler wieder zu Ihren Klassenräumen zurück. Ich riss mich von den bunten Flyern und Plakaten los und folgte einer Gruppe Schülern aus meinem Geschichts Kurs. Den restlichen Schultag über ließ ich mich von meinen Fähigkeiten faszinieren. Ich hörte heimlich die Musik von dem Jungen am andere Ende des Klassenraums mit, welcher sich heimlich einen Kopfhörer ans Ohr hielt, und sah von dem hintersten Platz der Klasse zu, wie die einzelnen Pixel des Smart Boards nervös flimmerten. Es war atemberaubend und zu gleich beängstigend.

Nach der Schule fiel mir wieder ein, dass ich vorgehabt hatte zu Dr. Hanson zu gehen, um mit ihm über die Schmerzen zu sprechen die ich seit dem Tag hatte an dem er mir die Spritze gegeben hatte. Ich hatte gestern Abend noch recherchiert, wo seine eigentliche Praxis war und wann er Sprechzeit hatte. Nicht, dass es reichen würde, dass ich auf einmal hörte, wenn eine Stecknadel zwei Blogs weiter zu Boden fiel und jeden einzelnen Bartstoppel von einem Mann, der gut 300 Meter von mir entfernt stand, sehen konnte, fing ich jetzt auch noch an die Gerüche um mich herum stärker wahrzunehmen. Einerseits war ich total überfordert mit der aktuellen Situation, andererseits war es spannend diese neuen  Fähigkeiten zu erforschen und zu sehen wo ihre Grenzen waren.

Ich kam zu einem Gebäude ganz aus Glas, mit einer mamorweißen Eingangshalle. Ich ging zu dem Schalter und fragte die Frau in dem roten Kostüm, in welchem Stockwerk Dr. Hansons Praxis war. Sie telefonierte gerade und deutete Stumm auf einen Aufsteller neben dem Fahrstuhl. Seine Praxis war im 34. Stock, ganz oben. Ich fuhr hoch und sah zu wie die Eingangshalle langsam verschwand und die Menschen draußen immer kleiner und kleiner wurden, bis sie nur noch wie Ameisen aussahen und trotzdem konnte ich die Falten an dem Rock einer Frau erkennen oder das das kleine Mädchen an ihrer Hand eine Wimper auf der Backe hatte. Der Fahrstuhl kam langsam zum stehen und mit einem Ruck öffneten sich die Gläsernen Türen.

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