Spuren

881 30 6
                                    

Das Treiben im Dorf war wie immer am Nachmittag im vollen Gange. Kagome hatte gerade die Lehrstunde mit Rin beendet und hielt nun überall nach ihrer Freundin Sango Ausschau, konnte sie allerdings nirgendwo entdecken.

Weder hatte einer der anderen Dorfbewohner sie am heutigen Tage schon gesehen, noch war sie bei Kaede am Dorfbrunnen, weshalb für Kagome nur eine Schlussfolgerung übrig blieb: die Dämonenjägerin musste noch immer schlafen.

Kagome lief in Richtung der Sammelhütte für Kranke und Verletzte. Die alte Miko Kaede bewohnte diese mit ihrer Schülerin Rin und pflegte dort, unter Hilfe von Kagome und der Miko-Schülerin, kranke und verletzte Dorfbewohner, wenn es die Situation verlangte. Doch aktuell waren alle Menschen gesund, es gab keine Krankheiten und Kagome und ihre Freunde hatten in den letzten Monaten gut dafür gesorgt, dass bei den selten gewordenen Dämonenangriffen keiner verletzt wurde. Dementsprechend war die Hütte mit den 15 Schlafstellen am Tag leer. Um die Hütte herum waren kleinere Hütten erbaut worden, die die ledigen und verwitweten Frauen bewohnten. Sango bewohnte die Kleinste davon, hatte aber dementsprechend auch keine Mitbewohnerin zu ertragen, wie die anderen Frauen im Dorf.

Behutsam schob die Schwarzhaarige die Bambusmatte, die den Eingang der Hütte bedeckte, zur Seite und lugte in den abgedunkelten Raum. Darin konnte sie eine liegende Silhouette ausmachen. Kagome trat vorsichtig ein, um ihre tatsächlich noch schlafende Freundin zu wecken. „Sango, los steh auf."

Doch die Frau knurrte nur und drehte sich, unverständliche Worte nuschelnd, einfach um.

„Sango! Verdammt noch mal, dann trink nicht so viel wenn du es nicht verträgst!", schrie Kagome nun und die Dämonenjägerin setzte sich erschrocken auf und sah sich verwirrt um.

Sich die Augen reibend fragte sie: „Wie spät ist es?"

„So spät, dass ich dich auch hätte bis zum nächsten Morgen hier liegen lassen können, ohne dass du es bemerkt hättest. Mein Gott, so schlecht kann es dir doch gar nicht gehen, dass du beinahe den kompletten Tag verschlafen hast."

Sango rieb sich den Schlaf aus den Augen und versuchte sich das verfilzte braune Haar zu richten, welches ihr in einem wilden Durcheinander vom Kopf abstand. „So spät ist es also schon? Oh man, ich hab vielleicht Kopfschmerzen."

Kagome legte die Hände in ihre Hüften: „Ich habe kein Mitleid mit dir. Steh auf, mach dich frisch und dann los." Dann marschierte sie aus der kleinen Behausung.

Einige Minuten später trat schließlich eine völlig zerknirschte Sango aus der Hütte. „Warum hast du mich nicht eher geweckt?"

„Hätte ich ahnen können, dass du hier die Alkohol-Leiche spielst? Ich hatte zu Tun und erst jetzt die Zeit, um nach dir zu sehen.", Kagome seufzte. „Sango, ganz ehrlich, du hast dich eindeutig überschätzt und das hätte ziemlich gefährlich ausgehen können, wenn es heute einen Angriff auf das Dorf gegeben hätte."

Sango zog schuldbewusst den Kopf ein. „Ist Sesshomaru heute nicht da?"

„Ich habe ihn nicht gesehen.", antwortete die Miko monoton.

Den Kopf schief legend fragte die Braunhaarige: „Was ist gestern noch passiert, als ich weg war?"

„Nichts."

„Wie, Nichts?"

„Nichts. Wir haben unsere Becher geleert und sind jeweils unserer Wege gegangen."

Sango spürte, dass Kagome nicht weiter darüber reden wollte, was natürlich auch völlig in Ordnung war. Aber der Grund für die Verschlossenheit hätte sie wahrlich interessiert, obwohl sie vermutete, dass die Miko selbst zu betrunken war, um sich noch daran zu erinnern.

Die letzten Stunden des Tages verstrichen und Kagome kam nicht umhin, sich immer wieder suchend umzublicken oder ihre Sinne auf der Suche nach einem gewissen Youki auszustrecken. Doch ihre Suche blieb erfolglos, Sesshomaru war Nirgendwo auszumachen und das erste Mal seit über einer Woche, kam er nicht in das Dorf.

Ja, sie war wütend auf ihn, mehr als er es sich wahrscheinlich ausmalen konnte, doch dass er nun feige das Weite gesucht hatte, fachte ihre Wut nur noch mehr an. Sie fragte sich, was der Grund für sein plötzliches Fernbleiben war, ob er sich vielleicht dafür verabscheute, mit einem Menschen geschlafen zu haben, was ihrer Meinung tatsächlich sehr weit unter seiner Würde lag. Und irgendwie bekam Kagome nicht das Bild aus ihrem Kopf, wie er irgendwo in einer heißen Quelle saß und sich tagelang den Körper schrubbte, um ihren abscheulichen Menschen-Gestank von seiner Haut zu bekommen. Und durch diesen Gedanken hätte sie sich gleich noch mehr dafür hassen können, was sie getan hatte.

Sango hatte darum gebeten, das Abendessen ausfallen zu lassen, ihr Magen hätte das noch nicht verkraftet mit Nahrung konfrontiert zu werden und Kagome hatte ohnehin keinen Hunger, weshalb ihr der Vorschlag ihrer Freundin nur allzu Recht kam.

Die Sonne war bereits unter gegangen und die Frauen hatten sich eine gute Nacht gewünscht. Sango musste unbedingt noch den Rest ihres Rausches ausschlafen, um am morgigen Tag wieder die Alte sein zu können und auch Kagome hatte dringend Schlaf nachzuholen. Ein letztes Mal sah sie sich um, lies ihren Blick über die Umgebung schweifen. Sesshomaru war nach wie vor nicht zu entdecken und sie hasste sich dafür, dass es ihr einen Stich in der Brust versetzte.

Kurz bevor sie sich zu ihrer Hütte umdrehte, sah sie etwas im Mondlicht funkeln.

Am Fuße eines Baumes lagen nach wie vor die Scherben der Sake-Flasche, welche Kagomes Wut zum Opfer gefallen war. Sie waren ein Zeuge ihres Handelns gewesen und stumme Zeugen ihres Verrates an InuYasha und vor allem an sich selbst. Vorsichtig ging sie auf das zerstörte Keramik zu, als wäre es ein verletztes wildes Tier, welches sie jeden Moment attackieren könnte. Sie kniete sich hin und betrachtete es. Die Flasche war in gleichmäßige, relativ große Stücke zersprungen, die goldenen Verzierungen immer noch gut zu erkennen. Vorsichtig hob sie sie auf, darauf bedacht, keine der Scherben zu vergessen.

„Ich hasse dich dafür, was du mir angetan hast, Sesshomaru.", flüsterte sie, erhob sich und ging in ihre Hütte. Dort bettete sie die Scherben in ein weiches Tuch, welches sie fest verknotete und tief unten in ihrer Kleider-Truhe verstaute. Niemand durfte je diese Scherben finden, denn man würde nur Fragen stellen, woher sie kamen und vor allem, warum die Flasche kaputt war. Gutes Keramik war selten und teuer und es zu zerstören kam einer Sünde gleich.

Kagome schloss den Deckel der Truhe und lies sich auf den Boden sinken. Eine Träne lief ihr über die Wange. Das Herz schmerzte. Doch hoffentlich war mit diesem Beweis diese ganze Geschichte Vergangenheit und konnte vergessen werden.


Eine folgenschwere NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt