Heimat

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Frau Higurashi hatte sofort die Veränderung an ihrer Tochter bemerkt und griff ein: „Sota, du weißt genau, dass dieses Thema tabu ist!"
Der angesprochene zog den Kopf ein und lächelte seine Schwester entschuldigend an: „Tut mir Leid, Schwesterherz. War nicht so gemeint." Dann erhob er sich und drückte der blassen Kagome einen Kuss auf die Wange: „Ich werde Kasumi für morgen Abend einladen.", grinste er und ließ die beiden Frauen allein.
Als Kagome aus ihrer Schockstarre erwachte und sich den Worten ihres Bruders bewusst wurde, musste auch sie schmunzeln: „Er hat also tatsächlich eine Freundin."
Mama Higurashi war froh, dass Kagome sich wieder gefangen hatte. „Ja, Kasumi ist ein nettes Mädchen. Sie geht auf die gleiche Schule wie Sota und ist im Mädchen-Team des Kampfsport-Vereins."
„Wie lang sind sie denn schon zusammen?"
„Noch nicht lang. Aber das erzählt er dir am besten selbst." Ihre Mutter erhob sich aus ihrem Sessel und räumte die leeren Tassen auf: „Schlaf gut, Kagome."

Doch an Schlaf war für die junge Frau nicht zu denken. So viele Gedanken in ihrem Kopf hielten sie wach, doch sie bekam nicht einen Einzigen davon zu Greifen. Ächzend wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her, versuchte verzweifelt zur Ruhe zu kommen. Doch ihr Körper war in Aufruhr, ihr Herzschlag hatte sich den ganzen Tag über nicht beruhigt.
Es dauerte Stunden, bis sie schließlich in einen unruhigen Schlaf verfiel.

Am nächsten Morgen war Kagome früh wach. Das Leben in der Vergangenheit hatte ihre natürliche Uhr beinahe auf die Minute genau eingestellt und zudem machte sich in ihrem Inneren erneut Übelkeit breit.
Seufzend setzte sie sich auf, es würde keinen Sinn haben, liegen zu bleiben und darauf zu hoffen, wieder einzuschlafen. Denn auch wenn sie müde von dem alles andere als erholsamen Schlaf der letzten Nacht war, so waren die Übelkeit und das Herzrasen in ihrem Inneren stark genug, um als störend wahrgenommen zu werden und sie an der nötigen Erholung zu hindern.
Durch die zugezogenen Vorhänge, welche sich sanft im Wind des geöffneten Fensters wogen, drang der Gesang der Vögel in den Raum und beendete so die Stille der vergangenen Nacht.
Ja, nach all der Zeit war es wirklich merkwürdig, sich in einem festen Haus aus Stein aufzuhalten, welches mehr als ein Zimmer besaß. Auch wenn dies hier ihr Zuhause aus Kindertagen war, so hatte sie sich inzwischen an einfachere Verhältnisse gewöhnt. In der Vergangenheit war es ihr größter Luxus gewesen, ein Bett, genauer gesagt, einen Futon zu besitzen und eine Tür an der Hütte zu haben. Hier waren die Möglichkeiten größer und Dinge, die für ihre Familie alltäglich waren, erschienen der jungen Frau nun in einem neuen, helleren Licht.
Es gab fließend, sauberes Wasser, sie konnte sich regelmäßig die Haare waschen. Es war ein Leichtes, etwas zum Essen und Trinkwasser zu bekommen und ihr Kleiderschrank war so voll, dass sie die nächsten Wochen jeden Tag etwas anderen tragen könnte. Aber ob sie das auch wöllte? Wahrscheinlich nicht, denn Kagome hatte sich so sehr an einfachere Dinge gewöhnt, dass ihr dieser überschäumende Luxus zu viel sein würde. Also griff sie schließlich nur ein dunkelblaues Sommerkleid und einen lockeren rosa Cardigan. Kein Schmuck, keine Accessoires.

Eine erfrischende Dusche später, trat Kagome in die Küche. Die morgendlichen Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und tauchten den Raum in warmes goldenes Licht. Im Haus war es noch vollkommen still und die Miko sog das Gefühl des absoluten Friedens tief in sich ein. Wie anders sich das Leben doch anfühlen konnte, wenn man nicht auf Dämonen lauern musste, die jeden Augenblich dein Zuhause angreifen oder deine Lieben in Gefahr bringen könnten. Sie fragte sich, ob es in dieser Zeit überhaupt noch Dämonen gab.
Zumindest solche, die den Menschen gefährlich werden konnten.
Doch umso genauer sie es sich überlegte, umso wahrscheinlicher war es. Auch in der Gegenwart gab es grauenhafte Verbrechen. Väter schlachteten urplötzlich ihre ganzen Familien ab, Erwachsene vergingen sich an Tieren, kleinen Kindern und sogar an Babys und es wurde gefoltert, gemordet und verstümmelt. Auch wenn es schon immer böse Menschen gab, so waren wahrscheinlich öfter Dämonen, die die Gedanken der Menschen verunreinigten, daran beteiligt, als man glauben wollte.
Wahrscheinlich war das die Gefahr an den Dämonen der Neuzeit. Sie zeigten sich nicht mehr so bewusst, wie in der Vergangenheit, sondern agierten im Verborgenen und still und heimlich und erfreuten sich an den Erfolgen ihrer Machenschaften. Und wahrscheinlich war das auch der Grund, dass heute nur noch so wenige Menschen tatsächlich an die Existenz von Dämonen glaubten.
„Guten Morgen, Kagome."
Die junge Frau war froh, dass man sie aus den dunklen Ecken ihrer Gedanken herausgeholt hatte und drehte sich lächelnd zu ihrem Bruder um: „Guten Morgen, Sota."
Der Jüngere fischte im Schrank nach einer Schachtel Müsli und warf einen fragenden Blick zu seiner Schwester: „Möchtest du auch etwas?"
„Gern."
Kagome beobachtete, wie Sota Müsli, Schüsseln, Löffel und Milch auf dem Tisch verteilte und sich anschließend sein Frühstück zubereitete.
Sie lachte: „Was ist denn mit deinen Schokoladen-Cornflakes passiert?"
„Die sind bei einem Schüler der Unterstufe auf dem Frühstückstisch, wo sie hingehören.", kicherte er.

„Erzählst du mir von deiner Freundin? Werde ich sie heute wirklich kennenlernen?", wechselte die Miko nun das Thema.
Sota sah auf: „Du warst schon immer furchtbar neugierig, große Schwester."
„Stimmt.", lachte sie. „Und?"
„Kasumi ist ein Jahr jünger als ich. Ich habe sie ein paar Mal auf dem Schulhof oder in den Fluren gesehen, aber so wirklich haben wir uns erst kennengelernt, als ich in den Kampfsport-Verein gekommen bin. Sie trainiert da im Mädchen-Team und unterrichtet die ganz kleinen Kinder."
„Oh, dann ist sie also richtig gut.", staunte Kagome.
Sota nickte stolz: „Ja, das ist sie. Ich gebe es ungern zu, aber ich habe nicht nur einen Kampf gegen sie verloren." Lachend erhob er sich: „Aber ich sage ihr ständig, dass es nur daran liegt, dass sie schon seit ihrer Kindheit trainiert und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sie keine Chance mehr hat."
Auch Kagome erhob sich von ihrem Platz und begann damit, das Geschirr aufzuräumen und abzuspülen. „Du klingst, als wärst du sehr glücklich mit ihr."
Ihr Bruder nickte: „Das bin ich auch. Sie ist toll. Klug, schlagfertig und hübsch. Du wirst sie mögen." Dann gab er ihr einen Kuss auf die Wange, schnappte sich seine Schultasche und verließ das Haus.

Gerade als Kagome das Geschirr zurück in den Schrank räumte, betraten ihre Mutter und ihr Großvater den Raum.
„Guten Morgen.", grüßte sie die beiden.
„Guten Morgen, Kagome. Frühstückst du mit uns?", fragte sie der alte Mann.
„Tut mir Leid, Opa. Ich habe gerade mit Sota gefrühstückt."
Der Mann nickte und setzte sich auf seinen Platz: „Das ist gut. Ihr seid Geschwister und habt euch viel zu lang nicht gesehen. Ihr müsst viel Zeit miteinander aufholen."
Mama Higurashi machte sich daran, Rührei vorzubereiten. „Was hast du heute vor, Kagome?"
Die Miko biss sich auf die Lippe. Von ihrem wichtigsten Plan konnte sie nicht erzählen, also beließ sie es bei der zweiten geplanten Beschäftigung: „Ich werde mich ein wenig um die Tempelanlage kümmern. Mir ist aufgefallen, dass die Beete nicht mehr ganz so gut aussehen."
Ihr Großvater ließ den Kopf hängen: „Ich schaffe es mit meinem Rücken nicht mehr und deine Mutter hat so viel im Haushalt zu tun. Wir haben überlegt, jemanden für die Pflege des Grundstücks einzustellen."
Kagome war perplex. Ihr Großvater hatte immer viel Zeit und seine ganze Leidenschaft in die Pflege des Tempels gelegt. Diese Aufgabe nun abgeben zu müssen, fiel ihm sicherlich schwer."
„Vorerst bin ich da, um mich darum zu kümmern. Solange musst du keinen Fremden holen, der diese Aufgabe übernimmt."
„Danke, mein Kind. Vielen Dank." Man konnte ihm die Freude darüber klar ansehen und es erwärmte Kagomes Herz. Sie erhob sich und küsste ihren Großvater auf die Wange: „Ich helfe, wo ich kann."
„Kagome, könntest du mir einen Gefallen tun? Könntest du bitte einkaufen gehen? Ich muss mit deinem Großvater zur Therapie und schaffe es sonst nicht."
„Kein Problem, Mama. Mach einfach eine Liste fertig. Aber zu welcher Therapie müsst ihr?"
Opa Higurashi winkte ab: „Ach, deine Mutter ist der Meinung, dass ich meine Beine und den Rücken stärken muss. Deshalb bringt sie mich zwei Mal die Woche zur Therapie."
„Wahrscheinlich ist das wirklich eine gute Idee gewesen. Immerhin willst du fit bleiben, Opa.", zwinkerte Kagome ihm zu.
„Und ich hätte ihm auch keine andere Wahl gelassen.", ergänzte nun ihre Mutter, die die Teller mit Rührei und Toast auf die Tische stellte.

Nur wenige Minuten später lief Kagome mit ihrem Einkaufskorb die Treppen vom Schrein nach unten.
Wie lang war sie diesen Weg nicht mehr gelaufen? Früher hatte sie jeden Morgen die Stufen nach unten und am Nachmittag wieder nach oben steigen müssen, empfand es als das Normalste der Welt. Es gehörte zu ihrem Schulweg, führte zu ihrem Zuhause und war ihr nie als etwas Besonderes erschienen. Doch nun genoss sie jeden Schritt, wurde sich das erste Mal über den tollen Ausblick zur Stadt bewusst und lauschte dem Rauschen des Windes in den Bäumen und den Motorgeräuschen der Autos in der Ferne. Der Tempel befand sich am Rande Tokios und deshalb konnte die Familie Higurashi eine Ruhe genießen, welche in der Stadt selten war.

Das Geschäft, in welches sie gehen wollte, war nur wenige Minuten vom Tempel entfernt und da Kagome nur ein paar Kleinigkeiten einkaufen musste, war es nicht nötig, in ein großes Geschäft in die Stadt zu fahren.
Der Laden war überschaubar, hatte aber beinahe alles, was zum alltäglichen Leben nötig war. Nur wenn man seltenere Zutaten, wie Lebensmittel aus Europa benötigte, war man gezwungen in eines der riesigen Geschäfte der großen Kaufhausketten zu gehen. Doch Kagome war froh, dass ihr dies heute erspart blieb. Sie war sich nicht sicher, wie sie mit einem übervollen Geschäft und so vielen Menschen auf engen Raum umgehen könnte.
Beinahe schon verträumt lief sie durch die Regalreihen des kleinen Ladens. Schon als Kind war sie oft her gekommen, hatte sich Süßigkeiten oder eine Kinderzeitschrift kaufen dürfen. Wie oft war es wohl vorgekommen, dass sie an der Kasse in Tränen ausbrach, weil ihr Geld nicht für die gewünschten Süßigkeiten und eine Zeitschrift reichten? Meist hatte man ihr dann etwas von beidem geschenkt – zumindest hatte sie das als Kind noch so geglaubt. Erst Jahre später hatte sie erfahren, dass ihr Großvater die Geschenke heimlich bezahlt hatte, wenn die Besitzer des Ladens in den Tempel zum Beten kamen.
Bei diesem Gedanken musste Kagome unweigerlich lächeln. Ihr Großvater war immer die männliche Bezugsperson in ihrer Kindheit und auch späteren Jugend gewesen. Sie war noch ein kleines Kind, Sota ein Baby, als ihr Vater starb und so konnte sie sich nur noch schemenhaft an ihn erinnern.
Ihre Hand glitt zu ihrem Bauch. Sollte sich ihre Befürchtung bewahrheiten, wären sie und Sota nicht die einzigen in der Familie, die ohne Vater aufwachsen sollten. Doch dazu benötigte sie Gewissheit.

Als sie alle Dinge von der Einkaufsliste beisammen hatte, blieb sie am Regal für Damen-Hygiene stehen. Ihr Herz klopfte wie wild und als eine ältere Dame an ihr vorbei lief, tat sie so, als würde sie etwas ganz anderes suchen.
Doch es gab kein Entrinnen und sie würde an diesem Problem nicht so einfach vorbei kommen.
Also wartete sie ab, bis sie sich nicht mehr beobachtet fühlte und griff nach dem Grund ihres Unwohlseins. Schnell verstaute sie den Gegenstand an einer unauffälligen Stelle in ihrem Korb und begab sich zur Kasse. Sie hoffte nur, dass da Niemand saß, den sie kannte.

Kagome sollte Glück haben. Die Kassiererin war ihr völlig unbekannt gewesen und keine 20 Minuten später war die junge Miko wieder am Tempel angekommen. Ihre Mutter und ihr Großvater waren bereits unterwegs, weshalb die junge Frau die Gunst der Stunde nutzen wollte, um endlich diesen verdammten Test hinter sich zu bringen.
Sie stellte den unausgepackten Einkauf auf dem Küchentisch ab und lief dann nach oben ins Badezimmer und schloss sich ein.
Ihre Hände zitterten, als sie die hellblaue Verpackung aufriss und einen Gegenstand in einer silbernen Folie und die Packungsbeilage herausholte. Eilig überflog sie die Anleitung und öffnete die Folie.
10 Sekunden drauf pinkeln.
Gegenstand waagerecht hinlegen.
3 Minuten warten.
Schwer war es nicht.
Dennoch klopfte ihr Herz wie wild, als sie den Deckel auf den Test zurück steckte und ihn auf den Waschbeckenrand legte.
Sie zählte die Sekunden.
Noch zwei Minuten.
Ihr wurde beinahe schwindelig.
Noch eine Minute.
Die bisher nicht abgeflaute Übelkeit verstärkte sich.
Zehn Sekunden.
Neun.
Acht.
Sieben.
Sechs.
Fünf.
Vier.
Drei.
Zwei.
Eins.
Die Zeit war um.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 12, 2017 ⏰

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Eine folgenschwere NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt