There is nothing I can do

Zwischen Brillen und Kontaktlinsen

„Seid ihr gut mit dem Verkehr durchgekommen?" Mum löchert Besime und Aaron schon seit einer gefühlten Ewigkeit mit Fragen. Nicht, dass ich das schlimm finde ... obwohl, doch: Es ist irgendwie nervig. Können sie nicht wenigstens über etwas Lustiges reden? Anscheinend nein, sondern eher über den Verkehr. Wenn es nicht meine Familie wäre, dann würde ich es richtig peinlich finden. Am meisten tun mir aber Luna, Taddl und Marley leid. Sie sind das erste Mal hier und wollen bestimmt andere Dinge hören. Für sie sind es ja fast alle neue Leute. Ich kaue leicht angespannt auf meiner Unterlippe. Worüber könnten wir so reden? Vielleicht Musik oder so, aber ich kenne sie halt kaum. Mist, ich hätte mir im Voraus etwas überlegen sollen...

„Deli?", flüstert Ardy so plötzlich, dass ich fast die Gabel fallen lasse. Er sitzt direkt links neben mir. „Ja?" Er schaut mich nur mit diesem leicht perversen Grinsen an: „Wegen vorhin. Das gibt 'ne Abreibung." Mir läuft ein minimaler Schauer über den Rücken. Ardy kann bei sowas auf sehr verrückte Ideen kommen, das ist sein großes Spezialgebiet. So, wie ich ihn kenne, legt er es auf den Moment, in dem ich längst vergessen habe, dass ich dran bin. „Du hast es mir doch selber angeboten?!" Ich hoffe, es kam möglichst normal rüber. Glaube schon, denn Ardy schüttelt nur amüsiert den Kopf und isst weiter. Emi, die sich auf den Stuhl rechts von mir gesetzt hat, lacht kurz, aber in ihrem Blick steht klar und deutlich: Keine Sorge, wir denken uns etwas Lustiges und Geiles aus! Ich glaube ihr. Sie ist ebenfalls höllisch kreativ, und wenn man etwas Alkohol hinzufügt auch ziemlich mutig. Versuchen wir aber erstmal, das unberechenbare Zeug aus dem Spiel zu lassen...

Möglichst unauffällig probiere ich, einen Blick auf die anderen aus der Clique zu erhaschen. Es wäre komisch, wenn ich sie anstarren würde, aber in kurzen Beobachtungen kann man auch recht viel herausfinden.
Neben Ardy sitzt Luna. Logisch, ist ja schließlich seine Freundin. Sie trägt jetzt eine Brille, sieht nach einer optischen aus. Also wahrscheinlich Sehschwäche. Auf einem Ärmel sind einige kleine Farbkleckse, die ich vorhin nicht gesehen habe. Ardy hat glaube erzählt, dass sie richtig gerne und wundervoll zeichnen und malen kann. Oh, vielleicht könnte sie mir ja bei der Decke helfen... Sie wirkt zwar zurückhaltend, aber ich bin mir sicher, dass das weggeht, wenn wir etwas mehr geredet haben. Bloß worüber?
Rechts von Emi befindet sich Taddl. Nun ja, mich beschleicht immer mehr das Gefühl, dass er reden will, aber keinen Plan, worüber. Genau wie ich halt. So gut ich weiß ist er der Jüngste in der Truppe. Vielleicht machen die Altersabstände zwischen den vieren, die lustigerweise jeweils mehr oder weniger ein Jahr betragen, doch etwas aus. Vorhin wirkte er eigentlich ganz nett, wir könnten uns glaube ganz gut verstehen.
Noch einen Platz weiter schiebt sich Marley etwas Salat in den Mund. Über ihn weiß ich definitiv am Wenigsten. Luna ist ja Ardys Freundin und Taddl kennt er anscheinend auch schon seit gefühlten Jahrtausenden. Die Zusammenarbeit mit Marley ist erst später entstanden. Er macht den Beat, während Ardy und Taddl halt die Rapper sind und Texte schreiben. Ein eher zurückhaltender Mensch, scheint mir. Er trägt genau wie Luna eine Brille. Da bin ich wohl durch Zufall im Club der Brillen- und Kontaktlinsenträger gelandet. Alles klar...

Langsam widme ich mich wieder dem Essen. Man kann ja alles sagen, aber wenn Mum eine Sache göttlich kann, dann kochen! Wahrscheinlich ist das auch einer der Gründe für die immer gute Stimmung. Ob Ardys Freunde das ebenfalls so sehen? Wenn nicht, dann ist das aber auch ausschließlich ihr Problem. Bekannt als persönliches Pech.
Um genau zu sein habe ich null Plan, wie es in nächster Zeit so laufen wird. Wir sind ja nun eine wirklich extrem zusammengewürfelte Truppe. Sowas ist total unberechenbar. Die Tatsache, dass drei Leute vollkommen neu sind und sich ein weiterer Dude sehr verändert hat, macht es nicht gerade einfacher. Na super... Langsam frage ich mich ernsthaft, wie das funktionieren soll.

"Was wollen wir heute noch machen?" Endlich unterbricht Ardy diese Totenstille, die mir schon etwas länger recht unangenehm ist. Außerdem wäre es gut, die Frage mal zu klären. Dann wüsste ich zumindest, wo ich dran bin. Vielleicht etwas, bei dem wir ein bisschen mehr reden können. Ist ja nur so ein Vorschlag...
Marley gähnt nur: "Ich bin ehrlich gesagt viel zu müde von der Fahrt. Würde mich jetzt erstmal für den Anfang ein paar Stunden aufs Ohr legen. Ihr könnt natürlich ohne mich was machen." Ernsthaft? Da bietet sich mal eine Variante, ins Gespräch zu kommen und der Typ will pennen. Okay, ich kann ihn ja verstehen - Autofahren ist anstrengend - aber mies ist es trotzdem. "Mir geht es genauso.", meint Luna allerdings ebenfalls. Ist das ihr Ernst?! Wenn sie am Steuer gesessen hätte, dann könnte ich es ja hundertprozentig nachvollziehen, aber so kommt es schlicht und ergreifend als simple Ausrede vor, um die Gesellschaft anderer Leute zu meiden. Ist das Mädchen irgendwie menschenscheu oder so?
Hoffnungsvoll blicke ich zu Taddl. Kann ja sein, dass wenigstens er normal ist und sich nicht in seinem Zimmer verkriechen will. "Ich brauche erstmal auch ne kleine Auszeit." Wieso? Mittlerweile bin ich allen Ernstes kurz davor, den kleinen Hund, der schon seit Ewigkeiten schwanzwedelnd durch das Zimmer läuft, zu erwürgen. Dabei hat die Arme nothing mit der Sache zu tun - außer eventuell dass sie den Leuten gehört.

"Und was ist mit euch?" Nun ist es Ardy, der Emi und mich mit einer stummen Bitte in den Augen ansieht. Wenigstens einer, der zu mir hält. "Also ich bin dabei." Meine Freundin nickt auch. "Im Gegensatz zu anderen Leuten.", füge ich allerdings noch hinzu. Vor allem Luna und Taddl sollen klipp und klar wissen, dass ich so ein Verhalten echt nicht leiden kann. Schließlich Leben wir nun unter einer Decke, zumindest vorübergehend. Oh man, es kann ja sein, dass mein Cousin sie mal heiraten will ... da sollte ich mich lieber an ihre Laune gewöhnen, fuck. Nein, ich denke lieber gar nicht erst an diese Möglichkeit.
"Wir könnten einen Film schauen." Ardy immer mit seinen Einfällen. Die Idee ist aber auch verdammt gut. Perfekt, weil ich ihn so ewig nicht mehr gesehen habe. "Macht das ruhig ohne mich, quasi als Familiensache.", meint Emi lächelnd, sodass mir erstaunt mein Unterkiefer herunterfällt. So eine Freundin ist Gold wert! Verständnisvoll und stets mit guten Ideen im Gepäck. Nicht, dass ich etwas gegen ihre Anwesenheit habe, aber im Moment will ich etwas Zeit alleine mit Ardy verbringen. Um zu verstehen, wie sehr er sich verändert hat ... und weil ich ihn sehr vermisst habe.