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"Habt ihr noch fragen zu dem Thema?", Mr. Golden, unser Mathematiklehrer, wandte sich fragend an die Klasse. So ziemlich alle lagen schlafend auf ihren Tischen und ließen den quälend langen Unterricht über sich ergehen.

"Ja, Jannik?", der Lehrer deutete auf den blonden Schüler, dessen Hand als einzige in die Luft ragte. Na toll, was kam jetzt?
"Warum lernen wir so einen Scheiß? Wann brauche ich je wieder die Lagebeziehungen von einem Raum und einer verdammten Gerade?", er setzte sein schönstes Lächeln auf, während er auf die Reaktion des Lehrers abwartete. Natürlich lachte sich währenddessen die ganze Klasse halb tot, weil der liebe Jannik ja so lustig war. Stumm betrachtete ich das traurige Schauspiel der Hierarchie, die in meiner Klasse herrschte. Wer beliebt war, dem gehörte quasi die Welt, die anderen durften um Anerkennung betteln. Wie armselig.

"Lieber Jannik, hättest du im Unterricht ein bisschen besser aufgepasst, wüsstest du vielleicht, wofür man so etwas braucht. Nächstes Mal melde dich, wenn du wirklich eine Frage hast.", Mr. Goldens Worte ließ den ach so coolen Typen verstummen. Ich mochte diesen Lehrer immer schon.

Das nervtötende Klingen beendete schließlich den anstrengenden Schultag und erlöste mich von der Dummheit um mich herum. Nur noch ein Tag, dann war endlich Wochenende.
Mit meinem geliebten "Parzival" vor der Nase lief ich zu meinem Spind und griff nach meiner Jacke, als mir jemand mein Buch aus der Hand schlug.

"Hey Ratte, kauf dir lieber neue Kleidung als so einen Scheiß, dann bekommst du vielleicht endlich mal Freunde.", Doreen, unsere "Königin" der Schule, lachte mich höhnisch an und warf ihre feuerroten Haare stolz in ihren Nacken. Gemeinsam mit Jannik, Lisa und Christian stand sie an der Spitze unserer bekloppten Hierarchie und regierte eisern auf ihren nicht vorhandenen Thron.
Lachend zogen die Vier ab, ich bückte mich nach meinem Buch und tastete es behutsam ab. Solche Vollidioten, sie hatten ja keine Ahnung, wieviel so ein Buch wert war. Nicht vom Preis ausgehend, vielmehr von der Erfahrung, die neuen Gedanken die man bekam. Jede Geschichte öffnete eine neue Tür, in die man eintauchen konnte, wo man etwas neues erleben konnte. Diese Welt blieb diesen selbsternannten Herrschern wohl für immer verwehrt.

"Ach Vivie, was ziehst du den für ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?", begrüßte mich der fröhliche Ben, heute mit einer leuchtenden, orangen Krawatte.
"Es ist nichts.", ich setzte mich wie jeden Tag in die erste Reihe und kauerte mich ans Fenster.
Die Menschen zogen an mir vorbei, wir ließen die Geschäfte und Häuser hinter uns. Von der Schule brauchte ich lediglich fünfzehn Minuten mit dem Bus heim, die ich jeden Tag mit Ben verbrachte. Er war der Busfahrer für alles.
Ich schloss die Augen, presste meine Stirn an die kühle Scheibe und widmete mich wieder meinen Gedanken. Sie waren mein Anker, der mich festhielt und mich vor der Realität bewahrte. Und so verbrachte ich die Fahrt in meiner eigenen Welt. So wie jeden Tag.

******

Ich winkelte meine Knie an und knipste das Leselicht neben mir an. Die passenden, grünen Polster stapelte ich aufeinander und machte es mir dann in den Haufen bequem. Mein Herz pochte immer noch wie verrückt, die Ereignisse von gestern in der Bibliothek brachten meinen Magen immer noch zum Rebellieren,sobald ich das Geschäft betrat.
Auch diesmal herrschte ein eisiger Luftzug in dem, normalerweise angenehm warmen Geschäft. Jedes einzelne Härchen stellte sich bei den Gedanken an gestern auf, verzweifelt versuchte ich mich auf "Parzival" zu konzentrieren, abzutauchen in meine Welt, doch nichts half. Dieser Druck, der auf mir lastete, wurde mit jeder Sekunde, die ich weiterhin auf der Couch saß, stärker, während alles in meinem Kopf dröhnte. Was war seit zwei Tagen mit mir los?
Irgendetwas zog mich wieder von dem grünen Sofa, drängte mich in die hintersten Gänge. Ich konnte nichts dagegen tun, als ich plötzlich wieder vor diesem Buch stand. Auch diesmal wurde der Schmerz unerträglich in meinem Kopf, mir blieb wieder die Luft zum Atmen weg. Zitternd stützte ich mich am Regal ab, meine Knie waren so weich wie Butter.

Das Mädchen, das durch die Träume wandelte.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt