Nachtflug

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Wochenlang hab ich mir fast in die Hosen geschissen, wenn ich daran dachte, „Das Nest" zu Ende bringen zu müssen. Ich hatte die Geschichte bis auf das Finale in einem Rutsch im Flieger geschrieben, und während der Landung sah ich die Bilder des Endes greifbar vor mir, und ich hätte vor Freude weinen können, weil alles bei aller Irrationalität so folgerichtig war. Aber ich hatte keine Gelegenheit mehr, diese Bilder in Worte zu fassen, und als wir in Frankfurt angekommen waren, war ich aus der Spur. In den nächsten Tagen tippte ich das Handschriftliche ab, und ich hatte Angst davor, bei den letzten Zeilen anzukommen:

Es war ein wenig, wie unter Wasser zu sehen: Die Sicht war nicht ganz klar, aber doch unendlich klarer, denn das Wasser stellte den Kontakt mit allem her. All die Bewegungen der Menschen wurden zu einer einzigen, umfassenden Bewegung, und da war nichts, das sich außerhalb des Ganzen bewegte. Löste er sich aus dieser Entspannung, um wieder zur Oberfläche zurückzukehren, gab es keine Erinnerung, nichts, das sich greifen und festhalten ließ. Aber er fühlte, und die Tiefe war unendlich.

Es war offensichtlich, dass etwas Entscheidendes schief gelaufen war. Die Panik auf der ersten Aussichtsplattform war entsetzlich, und das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit war so überwältigend, dass seine Beine wie gelähmt waren. Er hatte das Gefühl, auf Stelzen zu gehen, und das Entsetzen in den Gesichtern der anderen Menschen war kaum auszuhalten.
Die Expresslifte waren blockiert, und Rauch drang durch die Ritzen der Türen in den geschlossenen Raum. Die Schreie der Frauen und Kinder übertönten nur unwesentlich die Rufe der Männer, die hilflos nach einem Ausweg suchten.
Ein Angestellter des Towers, der zur Ruhe mahnte, wurde von einem Fausthieb niedergestreckt, und die blutende Wunde in seinem Gesicht wurde von hysterischem Lachen begleitet. Durch den Glasflur konnte er ganz tief unten die pulsierenden Lichter der ersten Rettungsfahrzeuge sehen, die sich einer unlösbaren Aufgabe gegenübersahen.

Das Gefühl, die Spur nicht mehr zu finden, einfach nicht mehr weiterschreiben zu können und zu zweifeln wegen der absoluten Irrationalität der Bilder verunsicherte mich wochenlang. Vielleicht gab Vancouver den Ausschlag, vielleicht war es der Verlust einer Freundin, der ich über alles vertraute, keine Ahnung. Aber als ich vorhin die Kopfhörer aufsetzte, den Discman startete und die 12 auf Dauerrepeat hörte, war ich wieder in der Spur, und es war wie Fliegen, einfach unendlich geil:

"I thought you'd come around when I ignored you
So I thought you'd have the decency to change
But babe, I guess you didn't take that warning
'Cause I'm not about to look at your face again

Can't you see that you lie to yourself
You can't see the world through a mirror
It won't be too late when the smoke clears
'Cause I, I am still here"

Buch der Träume, 22. April 2003

- 43 in meinem Diary -

Taking A Risk / Die Magie des SchreibensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt