„Sie haben vergessen, Ihren Nachnamen in das Formular zu schreiben", stellte diesmal eine andere Krankenschwester fest. Ich verdrehte nur die Augen und schob mich an ihrer zierlichen Gestalt vorbei in das Zimmer, in dem ich am Vortag schon einer Blutabnahme beigewohnt hatte. Auch diesmal saß der Arzt mit den grünen Augen vor seinem Computerbildschirm und nahm keine Notiz von mir, als ich an ihm vorbei auf die Liege zu stapfte und mich auf dieser nieder ließ. Meinen Rucksack legte ich neben mich. Diesmal lag die Akte schon auf dem Tisch. Die Ergebnisse waren garantiert schon darin vermerkt. Er müsste sie nur aufschlagen, vorlesen, mir sagen, was auf mich zu kommt und ich könnte pünktlich, wenn Tobias von der Schule kommt, daheim sein. Aber nein. Der Arzt glotzte immer noch in seinen Bildschirm.
Ich gähnte und erntete so endlich seine Aufmerksamkeit. „Sie sind müde", stellte er fest und musterte mich eindringlich.
„Das haben Sie gut beobachtet", brummte ich.
„Ich hoffe, dass das kein Dauerzustand ist."
„Ne, war nur gestern länger auf. Sorry, hab nicht gewusst, dass Sie so darauf fixiert sind, wie fit ich bin."
„Wie ich sehe, haben Sie Ihr großes Mundwerk wieder gefunden, Kain. Ich habe mich schon gewundert, was mit Ihnen gestern los war", erwiderte der Arzt schroff und öffnete fast theatralisch meine Akte.
„Konsumieren Sie Drogen?", fragte er schließlich nach einigen Sekunden des Schweigens.
„Was geht Sie das an?"
„Junger Mann, hören Sie auf so mit mir zu reden. Diese Programm ist äußerst wichtig und ich verbitte mir diesen Tonfall!"
„Es tut mir leid", erwiderte ich zurückhaltend, „Gestern war einfach nicht mein Tag."
Der Doktor nickte verstehend und fuhr fort: „Ihr Bluttest zeigte keine Auffälligkeiten. Sie sind für unser Programm gut geeignet. Doch bevor wir beginnen können, muss ich mit Ihnen Ihre Daten noch einmal durchgehen um sicher zu gehen, dass uns kein Fehler unterlaufen ist. Ist das in Ordnung, wenn wir das jetzt machen?"
Ich nickte.
„Schön. Vorname Kain. Den Nachnamen wollen Sie uns nicht nennen. Ich hoffe, es gibt dafür einen triftigen Grund."
Seine hellen Augen durchbohrten mich mit einem strengen Blick, doch ich hielt ihm stand und antwortete: „Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Archer. Kain Archer."
Sein Blick wurde skeptisch, aber schließlich zuckte er nur mit den Schultern und notierte den Namen in der Akte.
„Kommt Ihre Familie aus Amerika?"
„Nein. Das ist der Nachname meines Vaters. Meine Großmutter kam, glaube ich, aus Kanada."
„Interessant", kommentierte er das Gesagte und machte sich eine weitere Notiz.
„Gut, machen wir weiter. Sie sind am... Interessant. Sie sind gestern 19 Jahre alt geworden", Er würdigte mich eines kurzen, anerkennenden Blickes und setzte schließlich seine Überprüfung fort, „Blutgruppe 0 negativ. Größe 1.87 Meter. Gewicht 75 Kilogramm. Lebende Verwandte sind ein kleiner Bruder und Ihre Mutter. Wohnort haben Sie keinen angegeben."
„Das ist richtig."
„Zu Ihrem Vater haben Sie auch keine Angaben gemacht."
„Das ist auch richtig."
„Sie machen ein ziemliches Geheimnis um sich und Ihre Familie. Sollten wir irgendetwas wissen, Herr Archer?", erkundigte er sich misstrauisch und tippte mit dem Stift mehrmals auf das Papier.
„Ich habe keine besonders große Bindung an meine Familie. Das ist eben so", antwortete ich vorsichtig.
„Na gut. Das Geld wird auf Ihr eigenes Konto überwiesen. Das geht in Ordnung oder?"
„Ja, ja. Klar! Wohin auch sonst?"
„Ich wollte mich nur noch einmal versichern", erklärte er und klappte die Mappe wieder zu.
„Na dann, Kain Archer, willkommen im Alpha-Programm. Warten Sie bitte auf dem Flur. Jemand kommt Sie abholen um Sie einzuweisen." Der alte Mediziner lächelte, zum ersten Mal war es ein richtiges Lächeln, und begleitete mich zur Tür. Als ich draußen stand, sagte er mir noch: „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und viel Kraft."
„Wie bitte?", fragte ich verwirrt, doch da hatte er schon einen schwer keuchenden Mann in den Raum gerufen und die Tür geschlossen. Nun blieb mir nichts anderes übrig als zu warten, also setzte ich mich auf einen der Plastikstühle, die an der weiß gestrichenen Wand standen.
Neben mir kauerte eine ältere Frau mit weißen Haaren und dunkeln Augen. Sie sah sehr müde aus, fuhr sich immer wieder über die fleckige Haut an ihren Armen, die das gelbe Shirt freiließen. Im gesamten Flur warteten Menschen auf eine Behandlung einer der Ärzte und ein paar Krankenschwestern wuselten von Tür zu Tür. Die Szenerie war fast klischeehaft für eine Krankenhaus dieser kleinen Größe.
„Kain?" Irritiert blickte ich nach oben in stahlgraue Augen einer circa fünfunddreißig jährigen Frau, die ihre braunen, gekräuselten Locken zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Mit ihrem spitzen Kinn und der kleinen Nase wirkte sie noch ein paar Jahre jünger, aber die Falten an den Augen und an der Stirn ließen sich kaum kaschieren. Sie war in eine unförmige Uniform aus blauem Stoff gesteckt worden, die aus einem Overall und einem schwarzen Gürtel bestand. Verunsichert blieb ich sitzen. Nicht ihr Aussehen verunsicherte mich, sondern die Schusswaffe, die in einem Halfter an ihrem Gürtel hing.
„Sind Sie nicht Kain?", fragte sie mich.
„Doch, doch", erwiderte ich und stand auf.
„Hallo, ich bin Isabella Michalska. Ich bin Mitarbeiterin des Alpha-Programmes und wurde gebeten, Sie zu unterweisen."
Sie hielt mir die Hand hin und ich schüttelte sie, bevor sie weiterredete.
„Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ihre Testergebnisse waren herausragend. Kommen Sie mit mir."
Ich folgte ihr brav den Gang entlang und aus dem Gebäude heraus auf den Personalparkplatz. Verwundert blieb ich auf dem geteerten Platz stehen und fragte: „Wo fahren wir hin?"
„Raus aus der Stadt", antwortete Isabella und holte einen Autoschlüssel aus ihrer schwarzen Lederhandtasche, die sie bei sich trug. Auf einen Knopfdruck, reagierte ein schwarzer Mercedes mit blinkenden Lichtern und lud uns ein, einzusteigen. Mit wachsender Unruhe setzte ich mich auf den Beifahrersitz der Limousine und wartete, bis Isabella die Zündung betätigte. Das Auto sah ziemlich teuer aus und war mit gutem Equipment wie einem eingebauten Navigationsgerät oder einer Rückfahrkamera ausgestattet. Ich war jedenfalls noch nie so einem Fahrzeug gefahren. Sie fuhr aus dem Parkplatz auf die Hauptstraße in Richtung Stadtausgang ohne ein Wort an mich zu richten. Viele Fragen wehten mir durch meinen müden Kopf, doch hatte ich nicht den Mut eine zu stellen, vielleicht auch aus Angst, dass ich nicht die Antworten bekommen würde, die ich hören wollte. Ich wusste immer noch nicht, was für ein Programm das überhaupt war und wie lange es dauern würde. Als mir der Lohn pro Tag gesagt worden war, das waren immer hin 75 Euro, hatte ich mir nur gedacht, dass es ja nicht schaden könnte, bei einem billigen Vortest mitzumachen. Dieser Vortest hatte aus drei Teilen bestanden. Einmal aus einem schriftlichen Test, der anscheinend verschiedene kognitive Fähigkeiten geprüft hatte. Der zweite ist rein körperlicher Natur gewesen, obwohl ich nicht wusste, wo die Messlatte gesetzt wurde. Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft. Am letzten haperte es immer bei mir, aber anscheinend hatte es gereicht. Der letzte Test war mir wirklich komisch vorgekommen. Es ging um Assoziationsketten, um Gedankenexperimente. Sie hatten Fragen gestellt vor allem über einen selbst. Die Fragen waren eher konkreter Natur gewesen und so verallgemeinert, dass es mir entweder unheimlich leicht oder unheimlich schwer gefallen war, wahrheitsgetreu zu antworten.
Langsam näherten wir uns der Stadtgrenze und ich wurde immer nervöser und nervöser. Ich wollte nicht weg. Ich wollte zu Tobias. Ich hatte ihm doch ein Essen versprochen. Aber Isabella manövrierte das Auto zielsicher auf die Landstraße auf der sie richtig Gas gab und so noch mehr Distanz zwischen mich und meinen Bruder brachte.
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Das Alpha-Programm ❖Pausiert❖
Übernatürliches"Ich wollte nicht weg. Ich wollte zu Tobias. Ich hatte ihm doch ein Essen versprochen. Aber Isabella manövrierte das Auto zielsicher auf die Landstraße auf der sie richtig Gas gab und so noch mehr Distanz zwischen mich und meinen Bruder brachte." Ei...