Wahllos griff ich in meinen Schrank, den ich erst vor ein paar Minuten eingeräumt hatte und zog einen dunkelroten Strickpullover und eine schwarze Jeansaus den Kleidungsstapeln hervor. Seufzend zupfte ich an dem Pullover herum. Er war etwas zu groß, sodass meine Hände fast komplett in den Ärmeln verschwanden. Ich schlüpfte in meine Doc Martens und band meine Haare zu einem lockeren Zopf.
Kurz vor dem Umzug war meine Mutter noch ein letztes mal mit mir zusammen einkaufen gewesen, in Deutschland. So, wie wir es immer getan hatten, als wir noch eine Familie waren. Mum war einem Kaufrausch erlegen und hatte mir unendlich viele Kleidungsstücke gekauft.
Vielleicht war das ein guter Schritt gewesen. Vielleicht tat es ihr gut, mich nicht mehr in den Sachen zu sehen, die ich damals getragen hatte.
Ich hatte nur neugekaufte Kleidung mit in unsere neue Heimat genommen. Wenn man das alles hier überhaupt als Heimat bezeichnen konnte, dachte ich und bildere mir einem bitteren Geschmack im Mund ein.
Ich nahm einen grauen Mantel aus meinem Schrank heraus und ging den schmalen Flur entlang. Der Duft von Zimt hatte sich im Haus verbreitet und hätte mir beinahe ein Lächeln entlockt. Aber auch nur beinahe.
Ich stieß die Tür zum Garten auf und entschied mich, schnell ein paar Blumen zu pflücken. Schon als kleines Kind war ich mir immer wie eine grausame Mörderin vorgekommen, wenn ich die Pflanzen aus der Erde gerissen oder sie mit einem sauberen Schnitt der Gartenschere von ihren Wurzeln getrennt hatte. Auch jetzt noch schlichen sich Schuldgefühle an, als ich die vielen kleinen Gänseblümchen in meinen Händen hielt. Während ich wieder ins Haus ging, fertigte ich einen Kranz aus den Blüten an und band ihn mir zwei mal um mein Handgelenk, wobei das improvisierte Armband immer noch zu groß war.
"Da bist du ja! Komm, gehen wir", empfing mich meine Mutter, die bereits an der Haustür wartete, und zog mich hinter sich her. Sie war eigentlich kein Mensch, dem Pünktlichkeit wichtig war, doch offensichtlich konnte sie es kaum erwarten, Gledas Familie kennenzulernen. Das Haus unserer Nachbarn unterschied sich kaum von unserem. Es besaß ebenfalls ein Strohdach, machte einen gemütlichen Eindruck und war eher klein. Bloß die Farbe war anders. Es war im blassen Grün gestrichen, ein viel helleres Grün als das der Buchenblätter hier im Wald.
"Elyn, bitte bemüh dich ein wenig und lass dich auf ein paar entspannte Unterhaltungen ein. Versprich mir das, klar?", sie lächelte fürsorglich, doch ich hatte den verletzten Ausdruck in ihren Augen gesehen. Ich schluckte. Am liebsten hätte ich mit " Klar, Mama. Es wird bestimmt ein sehr angenehmer Abend werden. Selbstverständlich werde ich mich an vielen angeregten Gesprächen beteiligen!", geantwortet, doch ich schaffte es nicht.
Sie wartete auf meine Antwort, ich wurde jedoch erlöst, als eine gutgelaunte Gleda das Gartentor öffnete, uns an den Händen griff und sanft in den Garten hineinzog. "Pünktlich auf die Minute!", lachte Gleda herzlich und dirigierte uns zu der Terasse, die sich an der Hinterseite des Hauses befand. Grübchen zeichneten sich deutlich auf ihrem Gesicht ab, bemerkte ich, als ich sie etwas länger musterte. Ich fragte mich, wie wohl der Ehemann einer so lebhaften Person sein mochte.
Zwei Minuten später erfuhr ich dann auch die Antwort auf meine Frage. " Oskar, setz dich sofort hin! Du willst doch unseren Gästen gegenüber nicht unhöflich erscheinen!", tadelte der schwarzhaarige Geschäftsmann das Verhalten seines 9-jährigen Sohnes und fuhr sich mit einer Hand immer wieder über die Bartstoppeln an seinem Kinn.
William Lindberg hatte die Augen zu Schlitzen verengt und versuchte seinen Sohn mit diesem Blick einzuschüchtern. Doch Oskar dachte überhaupt nicht an einen Abbruch seines kleines Schauspiels, sondern kletterte auf den Tisch, breitete die Arme aus und ahmte Motorengeräusche nach.
"Ich bin ein Düsenflieger! Bin ich nicht cool? Elyn, du findest doch auch, dass ich cool bin, oder? Los, sags schon!", er grinste mich an und präsentierte mir dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne. Ohne meine Reaktion abzuwarten, ruderte er nun mit seinen Armen wild in der Luft und gab äußerst eigenartige Laute von sich.
"Ihgitt, du hast mich angespuckt! Das ist sowas von ekelhaft, Bruder!", schrie Filip, Oskars Zwillingsbruder, und sprang von seinem Stuhl auf. " Und du bist ein Weichei! Ernsthaft Filip! Du benimmst dich ja wie ein Kleinkind!" Mit diesen Worten sprang Oskar vom Tisch und warf seinen Bruder zu Boden. Mit fliegenden Fäusten rollten die beiden dunkelhaarigen Lockenköpfe auf der Wiese herum und warfen sich diverse Schimpfwörter, wie" Spinatfressendes Stinktier" und " Glitzerliebende pinke Einhornfeenprinzessin" an den Kopf. Das Gemätzel schien kein Ende zu nehmen, doch Gleda versicherte uns, dass sie sich nicht wirklich verletzten und nur aus Spaß ein wenig rauften.
"Tja, was soll man nur tun? So sind die Jungen in ihrem Alter nunmal. Filip, mein süßer... und Oskar, der kleine Fratz!", sagte sie schmunzelnd. Herr Lindberg entschuldigte sich gefühlte tausend mal bei uns für das ungezogene Verhalten seiner Söhne und hatte für sie bloß ein despektierliches Naserümpfen übrig, als er sie musterte.
Als Gleda mit Essen beladene Teller auf dem Tisch abstellte, dauerte es nicht lage, bis die Zwillinge wieder am Tisch saßen und gierig das Fleisch anstarrten, das frisch vom Grill kam. "Tilde, Elyn, möchtet ihr etwas trinken?", wandte unsere Nachbarin sich an uns.
"Das ist unfair! Nur weil die da die Gäste sind, bekommen die als erstes etwas angeboten? Ich habe auch Durst!", quengelte Oskar und warf mir einen Beleidigten Blick zu. Schmunzelnd schenkte ich ihm Wasser in sein Glas ein und er gab sich zufrieden.
"Ich will aber auch! Wieso hat Oskar es vor mir bekommen? Nur weil er 4 Minuten älter ist, heißt das nicht, dass er immer bevorzugt werden muss!", beschwerte sich Filip und lächelte mich kurz darauf an, als ich sein Glas ebenfalls mit Wasser gefüllt hatte.
Das Grillen verlief ohne außergewöhnliche Vorkommnisse, von den kleinen Machtkämpfen der Jungen abgesehen. Ich hatte wenig gesprochen und mich nicht über die Witze, die Gleda gemacht hatte, amüsieren können. Als Mum und ich schließlich aufstanden und uns mit einem festen Händedruck von Herrn Lindberg und einer kurzen Umarmung von Gleda verabschieden, war ich ein wenig erleichtert, da Smalltalk für mich schnell anstregend werden konnte.
Irgendwie hatten meine Mutter und Gleda mich überzeugen können, in Zukunft öfters auf die Zwillinge aufzupassen, um mein Taschengeld aufzubessern. Oskar zeigte mir einen komplizierten Handschlag, beim dem man am Ende, wenn man sich abklatschte " Boooooom" sagen musste, den ich nach längerem Üben endlich beherrschte und mich damit von ihm und Filip verabschiedete.
***
A/N an die nicht existierenden Leser: Irgendwie bin ich mit diesem Kapitel unfassbar unzufrieden, weil es in keinster Weise spannend ist. Wird auf jeden Fall in Zukunft überarbeitet.
Nach zwei Jahren hab ich mich dann auch mal wieder daran gewagt, die Geschichte hier wirklich zu schreiben:))
Bald ist Weihnachten und ich wünsche euch eine schöne Zeit, mit ganz viel Tee, Büchern und kuschelig flauschigen Decken:)
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Herbstmädchen
Novela Juvenil„Das Leben ist so ermüdend, es besteht doch einfach nur aus Warten. Wir warten auf den richtigen Moment, den richtigen Menschen und darauf, dass wir irgendwann schon glücklich werden." „Du denkst zu viel, Herbstmädchen. Gib nicht auf, Ok?", sein Läc...