Ich brauchte Kaffee.
Viel mehr als diesen Gedanken hatte ich den ganzen Schultag über nicht zustande gebracht.
Die anderen Schüler waren im Gegensatz zu mir heute sehr gesprächig und redeten auch in der letzten Stunde, zu meiner schlechten Stimmung beitragend Geschichte, aufgeregt über etwas oder besser gesagt Jemanden, wobei ich mir den ganzen Trubel um eine einzige Person nicht ganz erklären konnte.
"Tarek hat ihn heute auf dem Schulweg in der Stadt gesehen. Er meinte, er hätte ein blaues Auge und ziemlich viele Narben gehabt. Ich wette, er hat sich einer Gang angeschlossen!", flüsterte ein Mädchen schräg über mich hinweg zu meiner Sitznachbarin.
"Gangs, im Ernst? Ivy hat von Ella gehört, dass er eine Glatze hat. Gott, vielleicht hat er Krebs!"
"Halt die Klappe, Agnes. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich nur ein Vorbild an Herrn Hickingbuttom nehmen will", warf Marten ein und malte einen Kreis auf sein Blatt Papier, bevor er es zu Levi hinüberschob, der es schweigend annahm und mehrere Minuten lang kalkulierend anstarrte, bevor er mit todernster Miene ein Kreuz zeichnete und es Marten zurück gab.
Ich wandte mich wieder der Tafel zu und musste feststellen, dass meine Lehrerin innerhalb der zwei Minuten, die ich nicht aufgepasst hatte, die Entstehung unserer Welt und den Sinn des Lebens erklärt hatte.
"Schachmatt!", rief Marten plötzlich und mehrere Köpfe drehten sich in seine Richtung.
"Es ist Tic-Tac-Toe." Levi schob seine Brille zurecht und rümpfte abschätzig seine Nase.
Der Geschichtslehrer fixierte die beiden Jungen mit erstem Blick. "Sie, Marten, schreiben mir bis nächste Woche einen Aufsatz über den Holocaust."
Besagter nickte sichtlich genervt und schwieg den Rest der Stunde lang.
Als ich grade aus der Tür hinausgehen wollte, blieb er auf einmal vor mir stehen und grinste schief.
"Hey, ich habe mich grade gefragt, ob du als Deutsche nicht eine Expertin für den zweiten Weltkrieg bist? Ich meine, in deinem Unterricht wurde das Thema bestimmt viel ausführlicher behandelt, als bei uns"
Ich nickte langsam und zog meine Augenbrauen zusammen. "Das Schulbuch und das Internet können dir mindestens genauso gut weiterhelfen. Bei mir ist das Thema jetzt auch schon wieder ein Jahr her."
"Was hälst du davon, mit mir ins Pep's zu gehen, ich gebe dir einen Kaffee aus und du hilfst mir ein wenig bei meiner Hausarbeit?", seine Augen strahlten hoffnungsvoll.
Ich betrachtete den Boden. "Heute kann ich nicht."
"Na gut, Morgen?"
Ich blickte an ihm vorbei und wusste nicht, welche höhere Macht mich dazu brachte, den nächsten Satz auszusprechen.
"Morgen Nachmittag in der Stadtbibliothek. Keinen Kaffee, aber Bücher."
Er nickte sichtlich erleichtert. "Ich bin dir was schuldig!"
Ich deutete ein Lächeln an und machte mich auf den Weg zur Cafeteria. Als ich Lilia und ihre Freunde, meine einzige Hoffnung auf Gesellschaft in die ich mich nicht vollkommen neu integrieren musste, nicht finden konnte, lief ich größtenteils unbeachtet zu dem hintersten Tisch, in der Ecke des großen Raumes, holte meine Kopfhörer und die ausgebleichte Ausgabe von Oliver Twist, die ich in Bremen im vorigen Jahr auf einer Tauschbörse im Gegenzug für irgendeinen Kitschroman ergattert hatte, hervor und kapselte mich so gut es ging von der Außenwelt ab.
Es war verdammt ungewohnt, wie die Menschen hier mit mir umgingen. In Deutschland waren unzählige Blicke meine ständigen Wegbegleiter gewesen. In der Schule und auch in unserer alten Wohngegend. Sie hatten sich vielsagende Blicke zugeworfen, Gerüchte in die Welt gesetzt, mich aber nie offensiv konfrontiert. In meiner Gegenwart beobachteten sie mich aus der Ferne, als wäre ich ein scheues Tier. Meine Mutter hatte anfangs das selbe getan, so viel hatte sich bis heute nicht geändert, irgendwann aber angefangen, oberflächliche Themen mit mir zu führen.
Abgesehen von dem Wetter, ihrem Job und guten Rezeptideen, die sie von einer schien ihr Spektrum an Gesprächsthemen aber sehr begrenzt zu sein.
Obwohl ich selbst Mitleid hasste, empfand ich eben das für den Jungen. Wenn er sich wirklich so abgeschottet hatte, wie einige behaupteten, dann bestimmt nicht, damit die halbe Schule über ihn spekulierte.
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Herbstmädchen
Novela Juvenil„Das Leben ist so ermüdend, es besteht doch einfach nur aus Warten. Wir warten auf den richtigen Moment, den richtigen Menschen und darauf, dass wir irgendwann schon glücklich werden." „Du denkst zu viel, Herbstmädchen. Gib nicht auf, Ok?", sein Läc...