4. Machtpersonen

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Ich lief nicht nach Hause. Ich machte einen großen Umweg und schleifte mich zu meinem Ziel hin. Dabei machte ich einen breiten Bogen um die Menschen am flachen Strand und lief stets nach Norden bis ich die Felsen und Klippen erreicht hatte. Dieser Ort war stets verlassen und menschenleer. Familie und Kinder kamen nie hierher, da die Steine und der Kies im Sand, die Füße schnitten und da die Felsen kaum Platz boten, damit man die eine oder andere Decke auslegen konnte. Ich liebte diesen Ort... mein besonderer kleiner Fleck. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und zog meine Socken aus. Dann kickte ich die Schuhe zur Seite und schlang meine Arme um die Knie, dabei bohrte ich meine Zehen tief in den kalten Sand und schloss die Augen.
Ich atmete die salzige Meeresluft ein, die ständig dafür sorgte, dass mein Haar im Nacken sich kräuselte. Ich saugte die Luft tief ein und überließ mich Stück für Stück den Sinnen. Ich könnte für immer hier sitzen und den lauten Wellen lauschen, die auf Stein und Fels trafen. Für immer den kratzigen Sand zwischen den Zehen spüren. Für immer die leichte Brise im Nacken spüren. Für immer die salzige Luft einatmen. Für immer den schreienden Lauten von Möwen lauschen und die Schaumkronen hinterher jagen. Die Zeit vergessen und sich in das Zeitlose verlieren. Ich sein.
Das tiefe nackte Blau brannte in meine Augen, als ich den Ozean bewunderte. Ehrfürchtig wegen seiner Macht und aufbringenden Gewalt, die dank seiner Wellen und Tiefe strahlte. Der Ozean, der von Nichts und Niemand gebändigt werden konnte. Der Ozean der sich Nichts und Niemanden unterwerfen musste, nicht einmal Panem.
Ich kam immer hierher, wenn mich etwas beunruhigte.
"Annie, nicht du bist Schuld. Panem ist schuld."
"Süße nicht du bist schuld. Panem ist schuld."
Ich schloss die Augen, in meinem Kopf rauschte es.

Die Sonne ging unter und tauchte mein Viertel in ein hübsches Orange. Dämmerung brach über Distrikt 4 ein und ich musste schlucken. Ich strich mein Rock glatt und klopfte an der Tür. Ein stämmiger Mann öffnete mir die Tür und ich blickte in rabenschwarze Augen.
Ich räusperte mich und musste unwillkürlich einen Schritt zurücktreten: "Sind Sie Trian Lint?"
Der Mann grinste und entblößte dabei eine Reihe von vergoldeten Zähnen. Sein Blick streifte meinen Körper und ich trat einen weiteren Schritt zurück. "Ja der bin ich. Und wie heißt das hübsche Mädchen."
Ich seufzte, ich musste wohl meinen Namen sagen, wenn ich seine Hilfe bekommen wollte. "Annie Cresta."
"Wie kann ich dir helfen?", sein Blick streifte wieder über meinen Körper.
Mein Herz schlug schneller und ein Gefühl der Beklemmung machte sich in mir breit. "Ich hörte Sie seien ein Friedenswächter.", stammelte ich und dieser nickte.
"Ich hörte Sie würden Geld leihen.", ich brachte nur noch ein leises Flüstern raus. Dieser Mann war beängstigend und seine dunklen schelmischen Augen beunruhigten mich. Er lachte auf, was mich verunsicherte.
"Sie leihen also kein Geld?", flüsterte ich. Sein Lachen wurde lauter:" Oh, Liebes. Man hat dir erzählt, dass ich Geld leihe? Vielleicht sogar schenke." Er kam noch einen Schritt näher und beugte sich vor. Seine goldenen Zähne blitzten auf und seine Augen funkelten düster.
"Schwachsinn. Ich bezahle nur.", seine Miene hellte sich etwas auf: "Erzähl mir erst warum die Hilfe brauchst, dann erzähl ich dir was ich im Gegenzug verlange. Einverstanden?"
Ich erzählte ihm, dass die Regierung kurz davor war uns aus unserer Wohnung rauszuschmeißen und, um das zu verhindern, dafür nur etwas Geld bräuchte, um die letzte Summe für das Haus zu zahlen.
Ich erzählte ihm nicht, dass es daran lag, dass meine Mutter nicht mehr arbeiten konnte und ihre Medizin allein schon teuer war, noch erzählte ich ihm, dass mein Lohn einfach nicht ausreichte. Inzwischen war es komplett dunkel geworden und der Friedenswächter lehnte sich entspannt gegen den Türrahmen, als er sagte: "Du hast Glück, dein Preis ist nicht hoch und du bist zu hübsch, um dich gehen zu lassen... Du musst verstehen, dass ich nicht ohne eine Vereinbarung jemanden annehme. Aber du, du bist Gold wert." Jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. Der Mann hatte sich inzwischen so weit vorgebeugt, sodass ich seine Bartstoppeln auf meinem Gesicht spüren konnte. Seine schwarzen Augen schienen nach etwas in meinen grauen Augen zu suchen. Sein fauler Atem traf mich und mein Instinkt schrie: 'Lauf!' Ich schüttelte innerlich den Kopf: 'Für Mom.' Und somit rührte ich mich nicht von der Stelle.
Der Mundwinkel des Mannes zuckte und er schien bereits eine Entscheidung gefällt zu haben und erneut schrie mein Instinkt: 'Renn!'
Starke Arme packten mich an der Schulter fest und ich erstarrte. "Ich-", voller Furcht erblickte ich den Mann, als er sein Gesicht senkte. Dann traf mich sein fauler Atem. Ich erstarrte und versuchte mich von seinen Lippen zu lösen, doch er war zu stark und versuchte stoisch seine Zunge in meinem Mund zu schieben. Ich biss zu.
"Verdammt!", er riss sich von mir los und fasste sich an der Lippe. Ich zitterte und meine Glieder fühlten sich wie festgeschmolzen an. Ich hatte das Gefühl, dass meine Eingeweide noch stärker zitterten als meine Hände.
Noch nie hatte ich so große Angst gehabt und doch verspürte ich gleichzeitig auch Scham. Ein Gefühl, das mir Tränen in den Augen trieb, da ich zu leichtgläubig gewesen war.
Als der Mann erkannte, dass ich dem Weinen kurz bevorstand und Angst hatte, gackerte er los. Eine weitere Schockwelle erfasste mich und ich konnte mein Herzrasen spüren.
Er neigte den Kopf wieder nach vorn und seine goldenen Zähne waren blutverschmiert, was ihm nichts auszumachen schien. Er wollte nicht aufgeben:"Keine Angst. Bei mir bist du sicher." Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und sofort zuckte ich zurück. Ich hielt meinen Blick gesenkt und schlang meine Arme um mich. Ich wollte mich dem Gehen wenden. Das hier war zwecklos, ich musste woanders nach Geld suchen. Der Mann schien mein Vorhaben zu erkennen und wollte mich zurückhalten. Er versuchte mich immer noch zu überreden bei zu bleiben:"Nein, das willst du doch nicht. Hier an meiner Seite wird dir nichts passieren. Du hast gesagt du brauchst das Geld, nicht wahr. Bleib bei mir und du bekommst das Doppelte.", säuselte er. Ich war sprachlos und erschüttert. Um ehrlich zu sein wollte ich schreien. Vor Frust aufschreien, aber das hieße, dass man letztendlich die Situation vollkommen falsch verstehen würde und man mich für eine Frau hielt, die ihren Körper verkaufte. Schon seit Wochen suchte ich nach einer Stelle wo ich Geld bekommen konnte. Alles nur Sackgassen. Meine letzte Option war dieser Mann gewesen. Ein Mann der solange auf Frauen einredete, bis er sie überzeugt hatte mit ihm zu schlafen. Was er trotz meiner offensichtlichen Erschütterung bei mir auch versuchte.
Mein ärmlicher Versuch mich von ihm zu reißen, schien ihn bloß zu reizen. Also suchte ich nach meiner Stimme und als ich sie fand sagte ich etwas zittrig: "Alles was ich tun wollte, war meiner Familie helfen. Es ist meine Schuld, wenn wir aus unserem Haus rausgeworfen werden."
Er gab ein Tsk Geräusch von sich ab und sagte sanft: "Süße, nicht du bist schuld. Panem ist schuld."
Seine rauen Hände versuchten meine Wange zu streicheln und ich verzog angewidert das Gesicht. Ich versuchte meine Angst mit Spott zu verschleiern, also giftete ich: "Wissen sie wie alt ich bin?"
Er seufzte und ließ mich endlich los, als er vermutlich endlich erkannt hatte, dass er mich nicht mehr überreden konnte.
Ich knallte gegen die Wand, da meine Beine vor Erleichterung nachgegeben hatten und sank zu Boden. Ich ignorierte das zittrige Gefühl tief in meinem Magen.
"Und vor allem ist Alter nur eine Zahl.", erwiderte der Friedenswächter. Die Straßenlampe hinter ihm sorgte dafür, dass ich ihn kaum sehen konnte. Ich wollte mich aufrappeln, doch da ertönte eine tiefe Stimme: "Und eine Gefängniszelle ist nur ein Raum, wie die Arena es ist. Etwa nicht?" Der Friedenswächter drehte sich einmal um die Achse und keuchte: "Du! Auf dich warte ich schon eine lange Weile." Ich versteckte mein Gesicht hinter dem Haar, hoffend, dass man mich nicht mit Trian Lint sah.
"Hast du die Information?", fragte der Mann kurzangebunden. "Nur eine Adresse.", meinte der Friedenswächter und verschwand schnell in seine Wohnung.
Ich wagte einen schnellen Blick auf den Mann, der ungeduldig mit den Schuhen auf der Straße tappte. Polierte Schuhe. Ein Anzug. Breite Schultern. Bronzefarbenes Haar. Irgendetwas über ihn kam mir bekannt vor. Vielleicht war er irgendein Sohn irgendeines Regierungschefs und war einmal im Fernseher aufgetreten. Als der fremde Mann sich abruptartig umdrehte, ließ ich den Blick schnell wieder sinken. Etwas plumpste in meinem Schoß ich musste unwillkürlich zurückzucken.
Ich zwang mich nicht aufzuschauen oder zu fragen. Beim genauerem Hinschauen erkannte ich, dass es sich dabei um etwas in einem Papierbündel verpackte Sache handelte .
"Unser Körper ist die höchste Währung in ganz Panem. Es ist die einzige Währung.", sagte der Mann mit ausdrucksloser Stimme. Ich schluckte und eine neue Welle von Scham überkam mich. Wieviel des Gespräches hat er mitgehört?
Fast hätte ich das Zittern in meinem Eingeweide vergessen. Fast hätte ich die Angst vergessen.
Ich nahm das Papierbündel in den Händen.
Als Trian Lint zurückkam, übergab er dem Mann etwas. Was genau e war, konnte ich nicht durch meine Haarsträhnen erkennen.
Ich vermutete, dass es ein Briefumschlag war. "Wo ist das Geld?", fragte der Friedenswächter. "Ich hab es nicht dabei. Bring ich später irgendwann mal mit.", sagte der Mann kühl und dennoch mit einer gewissen Desinteresse. Ich spürte wie seine Augen auf das Papierbündel in meinen Händen liegen blieb, dann seufzte er und kehrte dem wütenden Friedenswächter den Rücken zu. Ich starrte das Papierbündel an... War es etwa Geld? Wieviel genau hatte der Mann nun tatsächlich mitgehört?
Der Friedenswächter, der ganz unzufrieden wirkte, spottete: "Ihr Sieg-", doch ihm verging die Sprache, als er gegen die Wand gleich neben mir geschleudert wurde. Trion Lint, der zuvor ganz stark und bedrohlich wirkte, wirkte nun in den Händen des fremden Mannes nur noch schwach und erbärmlich. Ich rutschte von den zwei weg, da ich keine Lust hatte in einem Streit von den zwei verwickelt zu werden. Und natürlich weil ich mich vor solch rohen Gewalt fürchtete.
"Was haben sie dich dort drüben weich bekommen?", spuckte der Friedenswächter. Dort drüben? Ich wusste, dass Trian Lint ursprünglich aus Distrikt 2 kam, aber das konnte er unmöglich meinen.
Ich hörte wie der Fremde kurz aufschnaubte und dann hörte ich ein Knacken. Der Friedenswächter stöhnte auf und hielt sich an die Nase fest. Die blutende Nase passte zu seinen blutenden Lippen: "Du verdammter- ... Ist es, weil soviele weibliche Machtpersonen dir den Rücken decken?"
Trian Lint versuchte die Faust zu schwingen, doch der Mann mit dem bronzefarbenem Schopf war viel schneller warf ihn zu Boden und ich musste unwillkürlich aufquieken. Ich konnte spüren, wie wütend der Fremde war. Schnell rutschte ich noch weiter weg und schob die Strähnen weiter nach vorne.
Der Fremde fuhr sich durch das Haar und sagte hasserfüllt: "Kommt aus dem Munde von dem Mann, der verzweifelt versucht mit dem letzen Bisschen Geld Mädchen zu kaufen."
Und ehe ich wenigsten einen Blick auf sein Gesicht erhaschen konnte, war er um die Ecke gebogen.

Ich öffnete die Augen und die Wellen schienen mit meiner Erinnerung gefährlicher geworden zu sein. Ich rieb mir die Arme so viel kälter war es inzwischen geworden. Seit jener Nacht hatte ich Trian Lint nicht mehr gesehen.





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A/N

Ich wollte nur klarstellen, dass Trian Lint kein Vergewaltiger ist und dass Finnick Odair (ich hoffe es war deutlich gewesen, dass er es war) Annie nicht wie in den guten alten Klischees gerettet hat.
Trian Lint ist lediglich eine Person, die versucht Frauen zu "verführen" und sie dann hinterher bezahlt.

Diese Szene wird auch sehr wichtig in der Zukunft von Annie und Finnick sein, deswegen habe ich sie auch so geschrieben.

Alles Liebe

Whisper of the Sea- Annie Cresta und Finnick OdairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt