6. Heimat

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Ich wurde in ein weiches Sessel geschleudert. Zitternd versuchte ich mir einen Überblick zu verschaffen.
In Prospekten und in den Schulbüchern stand geschrieben, dass wir eigentlich jetzt ein paar Minuten für die Familie bekommen würden, um uns zu verabschieden zu können.
Auch würde irgendwann mal unser Betreuer uns abholen und uns mit unseren Mentoren, die wir im Bahnhof treffen würden zum Kapitol verfrachten.
Ich hörte die Friedenswächter außen hektisch reden hören. Ein lautes Krachen war von draußen zu hören, ich drückte mich tiefer in den Sessel und hielt mir fest die Ohren zu. Ich hatte Angst und biss verzweifelt auf meine Lippen rum.
Ich hoffte niemand musste für meinen vorherigen Auftritt bezahlen. Ich hoffte sie würden Mom nichts tun. Mom! Mom war zusammengebrochen. Ich stürzte zur Tür und drehte hektisch am Türknauf: "Meine Mutter! Meine Mutter braucht Hilfe ihr geht's schlecht." Ich drehte aufgeregt am Türknauf und fing an zu schreien: "Bitte sie braucht Hilfe! Sie ist schwer krank!"
Stille.
Ich fing an verzweifelt an der Tür zu kratzen und versuchte die Bilder von meiner zusammen gebrochenen Mutter weg zu blinzeln. Leichenblass und ihr Blick starr zum Himmel gerichtet, weil ihr niemand geholfen hatte. Weil es zu spät war. Weil ich ihr Sorgen bereitet habe.
"Lasst mich raus!", fauchte ich.
Niemand rührte sich.
Hoffnungslos sank ich zu Boden und vergrub meine Hände in das Haar. Wahrscheinlich würde John sich nicht mehr an sein Versprechen halten, da sein Sohn mit mir in den Spielen war und somit wäre meine Mutter dem Tode geweiht.
Falls sie schon nicht...
Ich stöhnte leise auf und presste meine Ohren fester zu um meinen Gedanken Einhalt zu gebieten. Ohne es zu bemerken, hämmerte ich mit dem Kopf gegen die Wand. Niemand kam, um mich zu besuchen.

Tick, Tack

Irgendwann stürmten sie die Tür. Die Friedenswächter. Ich versuchte wie ein verängstigtes Tier von ihnen weg zu krabbeln, doch sie erwischten mich und schleiften mich raus: "Besuchszeiten sind vorbei!"
Wäre ich bei Sinnen gewesen, hätte ich gemault, da sie mich eingesperrt hatten, doch dann realisierte ich, dass sie nicht mich meinten sondern meinen Tributpartner Mase. Die Friedenswächter stürmten auch seine Tür und ich konnte einen Blick auf John und ein zierliches kleines Mädchen erhaschen mit roten kurzen Haaren.
Sie rissen Mase aus Johns Umarmung raus und das zierliche Mädchen schrie hysterisch auf und versuchte nach Mase zu greifen. Aufgrund des roten Haares von Mase und des Mädchens hätte man vermuten können, dass sie Geschwister waren. Doch ich wusste es besser, denn Mase war der einzige Sohn der Stuart Familie, also konnte ich nur vermuten, dass sie seine Freundin war.
"Mase!", rief sie ein letztes Mal, doch man hatte ihn bereits rausgezerrt.
Ich versuchte John zu rufen, ihn nach meiner Mutter zu fragen, aber aus mir kam keinen Mucks raus und die Tür fiel in den Schloss. Ich ließ den Kopf hängen. Die zwei Friedenswächter grunzten auf und zogen erbarmungslos fester weiter, als ich mutlos wieder zu Boden sinken wollte. "Lass mich los ich kann selber laufen! Was ist heute mit euch nur los?", rief Mase empört und klopfte nicht existierenden Staub von der Schulter weg, als die Friedenswächter ihn losließen.
Ich blieb stumm und zuckte bei seiner Stimme zusammen. Der Junge der mich zu Schulzeiten regelmäßig gehauen hatte, war nun mit mir in den Hungerspielen.
Besser könnte es für ihn nicht laufen. Die Friedenswächter hielten kurz inne und Mase drehte sich kurz um, nur um mich vor mich him starren zu sehen. Ich blendete sie alle aus. Ich blendete einfach alles aus. Ich verwettete alles darauf, dass irgendwelche Menschen hektisch gerade am Bildmaterial von mir schnitten, damit Panem nicht sah wie ich wie eine krankhafte Person auf der Bühne loslachte. Sie hatten wahrscheinlich auch die Stelle wo die Menschenmenge sich um meine Mutter versammelt hatte, als sie zusammengebrochen war, geschnitten. Mase räusperte sich und riss den Blick von mir weg. Er lief los und stieß die Türen vom Justizgebäude auf.
Wahrscheinlich hielten sie mich alle inzwischen für verrückt. Vielleicht war ich das auch. Verrückt, was?

Die Fahrt vom Justizgebäude zum Bahnhof war unangenehm ruhig. Unser Betreuer Vian Cistler: "Aber nennt mich ruhig Ian!", hatte er munter gesagt, war besonders ruhig. Er hatte inzwischen seine Klamotten und seine Schminke geändert. Die blaue Perücke war weg und jetzt hatte er goldbraune schimmernde Locken. Es war eindeutig sein natürliches Haar. Sein Lippen waren nicht mehr weiß geschminkt, sondern einfach nur seinem leicht getönten Hautton entsprechend nachgemalt. Seine Augen waren nicht mehr mit dichten Wimpern geschminkt und sein auffälligen Klamotten hatte er auch inzwischen ausgezogen. Eine neutrale weiße Hose und und ein weißer Kragenpullover mit abgeschnittenen Ärmeln ersetzten sein ursprüngliches Outfit. Ich runzelte die Stirn: Abgesehen von seinen aufwendig gestylten wilden Locke waren nur die Wangenknochen die mit goldenen Pulver und silberenen Verzierungen geschmückt waren, kapitolmäßig.
Was für ein komischer Kauz, dachte ich stumm und schloss die Augen. Wir hätten eigentlich im Justizgebäude unsere Mentoren dieses Jahres treffen müssen.
Sie waren nicht aufgetaucht, was angemerkt Mason erzürnt hatte und "Ian" finster starren lassen hatte. Nicht nur das war komisch gewesen, sondern auch die Tatsache, dass unsere Mentoren in Distrikt 4 gewählt wurden. Eigentlich waren Mentoren immer die neusten Sieger gewesen. Mentor war man immer so lange bis ein neuer Sieger gleichen Geschlechtes einsprang.
Pollet war schon seit den 59. Hungerspielen Mentorin gewesen, doch der der ständig wechselte und in den Ruhestand ging und dann wieder Mentor wurde, war Finnick Odair. Er war der Grund warum manin Distrikt 4 immer wieder männliche Mentoren wählte. Wahrscheinlich nahm man an, dass man wegen seiner Beliebtheit im Kapitol nicht stören durfte. Ich kniff die Augen und sah unseren außergewöhnlichen und männlichen Betreuer unruhig zappeln.
"Ian" konnte man als launisch einstufen, da er von einer Sekunde als fröhlicher Mann zu anderen Sekunde zu einem Mann mit finsteren Miene wurde. Auch sah er jetzt auch komplett anders aus. Ich wunderte mich warum Distrikt 4, der einzige Distrikt war, der einen männlichen Betreuer hatte. Ian wurde ein Jahr nach Finnicks Sieg zum Betreuer ernannt. Vielleicht hing es mit Odair zusammen. Vielleicht hatte es auch gar keine Bedeutung gehabt und Ian Cistler war nur rein zufällig der einzige männliche Betreuer, was ich aus unerklärlichen Gründen stark bezweifelte. Erat jetzt hatte ich bemerkt, dass es keine Friedenswächter mehr gab und ich eigenständig laufen musste. Ich schluckte und wischte mir unerklärlichen Tränen weg, die auftauchten, als ich selber loslaufen musste.

Am Bahnhof wimmelte es nur von Reportern und Kamerleuten die versuchten und Antworten und ein Lächeln zu entlocken. Ein Reporte drehte die Kamera bei meinem Anblick weg.
Ian der seine Launen nicht unter Kontrolle hatte, brach in ein Gelächter aus und hauchte Küsschen in Kameras rein. Er winkte und posierte mit seiner schmächtigen Gestalt. Er war eine schlaksige Person und groß war er auch. Was für eine Kombination, fast sah es witzig aus. Aber nur fast.
"Fast wie ein Klappergestell, das droht in sich zusammenzubrechen.", flüsterte Mase in mein Ohr, der gleiches zu denken schien. Ich zuckte weg und starrte ihn nur an. Mase sah sofort weg als er meinen Blick sah: "Schau mich nicht so an.", hatte er geknurrt. Ich wusste was er mit so meinte. Ich erinnerte ihn an unserer gemeinsame Schulzeit. Das war der Blick, den ich als ich nach etlichen Fäusten auf das Gesicht, aufgehört hatte irgendetwas zu fühlen und wie ein verängstigtes Elend mit Blicken gebeten hatte, aufzuhören mir wehzutun, gegeben hatte.
Ians Locken wippten und er winkte uns zu sich und legte die dünnen Arme um uns: "In den Zug mit euch!" Ich drehte mich um... um ein letzen Blick zu erhaschen? Ich war mir nicht sicher. Ich wollte den letzten Moment in meiner Heimat verinnerlichen und mich mit dem Gedanken zu sterben abfinden. Nein ich sollte. Was ich wollte war einfach nur... eine kleine Pause und meine Mom. Gesund auf Beinen. Heute war soviel passiert und ich hatte es bisher noch nicht wirklich realisieren, geschweige denn, verarbeiten können, was passiert ist. Ich schloss ich die Augen und versuchte den letzen Augenblicke meiner schönen Heimat zu verinnerlichen, als ich die Augen öffnete, sah ich nicht die Meere und Strände wie erhofft, sondern nur ein Meer aus blitzenden Lichtern und Aufforderungen in die Kamera zu lächeln. Eine kalte ruhige Welle überflutete mich in dem Moment. Das Schöne und das Hässliche. Mom und Annie.
Ich lächelte und meine Augen weinten. Weitere Kameras wurden nach unten gezerrt, sowas wollte man nicht filmen.
Ian drückte mich in den dunklen Zug rein.

Ian drückte meine Schulter und zwang mich in eines der gemütlichen Sesseln Platz zu nehmen.
"Dies ist der Fernsehabteil.", hatte er gesagt.
Mase war direkt aufgesprungen, als Ian ihn in den Sessel drücken wollte. Er lief zum Glasfenster rüber und starrte vor sich hin. In den letzten Minuten war er beängstigend still gewesen.
"Hier treffen die Tribute für gewöhnlich ihre Mentoren wieder, nachdem Mentor und Tribut sich am Bahnhof gesehen haben. Aber-", er hielt inne und seine Miene verdunkelte sich. Seine großen Augen wurden schmal.
Fast erinnerte er mich an eine Raubkatze:" Aber... Heute sind eure zwei Mentoren zur Ziehung aufgetaucht und dann nach der Ziehung verschwunden."
Eigentlich hätte Mase sich jetzt beschwert und gemault, doch dieser blieb stumm und ignoriert uns geflissentlich. Oder Ian. Ich lag stumm in einer Säuglingsposition im Sessel. Vielleicht bereute Mase es.
Sich freiwillig gemeldet zu haben. Eigentlich ergab es kein Sinn. Er hatte doch alles gehabt eine Familie und ein Mädchen. Warum würde er sich da freiwillig melden?
Ich dachte bitter, undankbar
Ich seufzte, Geheimnisse.

So ging es eine Weile weiter: Ich lag leblos im Sofa, Mase rührte sich keinen Stück und Ian lief aufgeregt hin und her.
Es war kein Mein-Ruf-ist-dabei-zestört-zu-werden oder ein ich-bin-nur-tadelnd-und-verärgert, wie es einem Betreuer sich eigentlich gehörte. Nein er war viel mehr ein simples ich-bin-besorgt. Wozu aber auch. Er hatte keinen jeglichen Grund dazu. Er stand gesund auf zwei Beinen. Er hatte was zu speisen und sein Tochter, wurde nicht gerade in die Hungerspiele geschickt.
Und wieder dachte ich bitter, undankbar.
Und wieder seufzte ich, Geheimnisse.

"Ein Sturm kommt auf.", krächzte Mase leise. Weinte er etwa? Ich drehte mich um, er hatte recht: Die Wolken waren ganz trüb und grau. Ich lächtelte den Wolken zu und sie taten es mir gleich.
In der Abteilung hatte es sich sehr schnell verdunkelt. Ian fing an unberuhigt mit den Fingern zu knacken. Ich reagierte blitzschnell:
Ich kniff die Augen fest zu, hielt mir die Ohren fest und machte mich im Sofa ganz klein. Die Gänsehaut verschwand nach einer Weile, die Bilder in meinem Kopf aber nicht. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis. Mein eigenes persönliches Gefängnis. Nur war ich nicht von Gitterstäben umzingelt, sondern Bilder von entstellten Leichen, ein Knacken was von einem Kanonenschuss begleitet wird. Anthony und Atlas brennend. Meine Mom unnatürlich gewinkelt auf dem Boden. Ich machte mich noch kleiner und grub mir die Faust tief in den Magen.
Wie komisch, dass diese Position und diese trübe Stimmung im Zug mir so vertraut war. Nichts hatte sich verändert.
Ich lächelte einsam: Meine Heimat ließ ich nicht zurück. Nein, ich nahm sie mit.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 10, 2017 ⏰

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Whisper of the Sea- Annie Cresta und Finnick OdairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt