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Nachdem mich bis zum Abend niemand auf die Seite genommen und angeschrien hatte, beschloss ich, das Risiko erneut einzugehen.

Dieses Mal hatte ich Glück, der Himmel war bewölkt. Nur leider konnte ich jetzt selbst kaum was sehen. Ich hatte extra länger gewartet als am Vortag. Auch in der Verwaltung waren bis auf zwei alle Fenster dunkel. Und die beiden hellen ließ ich nicht aus den Augen. In der Dusche verschwendete ich keine Zeit, und im Handumdrehen war ich wieder im Bett.

Am nächsten Tag merkte ich, wie Angi und ihre Freunde Verdacht schöpften. Dennoch schaffte ich es, ihnen den ganzen Tag aus dem Weg zu gehen.

In der Nacht ging ich wieder duschen. Doch dieses Mal schaffte ich es nicht mehr zurück. Als ich aus dem Duschgebäude kam, war ich in Gedanken schon wieder beim Zurückschleichen. Auf einmal flog mein Kopf zur Seite. Jemand hatte mir eine reigehauen. Ich konnte mein Gegenüber nicht erkennen, war mir aber sicher, dass es Angi war.

„Was willst du, verdammt?!" Ich hielt mir die Wange.

Als Antwort erhielt ich einen Schlag in die Magengrube. Jemand trat mir von hinten in die Kniekehle, woraufhin ich zu Boden sackte. Sie waren zu zweit. Ich konnte ihre Umrisse erkennen.

„Lass dir das eine Lehre sein" zischte Angi. Ich sprang auf und wollte weglaufen. Jemand hielt mich am Bein und ich fiel erneut.

Als sie schließlich von mir abließen, rannte ich weg. Aber nicht zurück zu den Schlafsälen, davor hatte ich zu viel Angst. Stattdessen rannte ich in Richtung der Gewächshäuser. Hinter dem erstbesten ließ ich mich an die Wand fallen und schloss die Augen.

Ich fühlte mich hilflos, und zugleich wie ein kleines Mädchen. Jetzt bloß nicht heulen. Ich wünschte, mein Bruder wäre hier. Ich wünschte, sie würden mich einfach in Ruhe lassen.
Aber der einzige Weg schien zu sein, zu tun was Angi von mir wollte. Und das kam nicht in Frage.

Ich saß wohl schon eine Weile mit geschlossenen Augen da, als...

„Was zur Hölle machst du hier?"
War Angi mir nachgelaufen? Ich hob die Hände aus Reflex abwehrend in die Richtung der Stimme. Dabei war die Stimme nicht mal weiblich...

Ein Leuchtstab ging an. Eine Wache.
Damian, die Wache aus dem Zug.

Scheiße.

„Im Ernst, was..." Er hielt überrascht inne. Sah mein Gesicht wirklich so schlimm aus? „Oh." Ich wollte etwas schnippisches antworten, aber mir war klar, in was für Schwierigkeiten ich mich befand.

„Du solltest nicht hier draußen sein." Er sah sich nervös um. Als ob er derjenige wäre, der sich Sorgen machen sollte, erwischt zu werden. Ich hielt die Luft an, wartete auf seine Reaktion. „Wer war das?" Er deutete auf meine Wange.
Ich zuckte bloß mit den Schultern.
„Hast du zurückgeschlagen?"
Ich schüttelte den Kopf.
Eine Regung huschte über sein Gesicht, zu flüchtig, als das ich sie erkennen könnte.

„Ich muss dich melden" sagte er schließlich, mehr zu sich selbst. Er sah mich entschuldigend an. „Nein..." stammelte ich, „bitte nicht!" Ich sah ihn flehend an. Ich hatte doch nie Ärger gewollt!

Damian raufte sich die Haare, drehte sich halb weg, so als wäre er innerlich hin und her gerissen. Zwischen seiner Pflicht, mich zu melden, und... Mitleid? War es das, was in seinem Blick lag? Nein, das war es nicht. Da war etwas anderes.

Er sah mich an, und ich sah, wie er langsam eine Entscheidung traf. „Falls ich dich laufen lasse..." er sah kurz in die Luft, dann wieder zu mir. Das Licht ließ seine Miene merkwürdig traurig aussehen. Er hatte mich voll in der Hand. In dieser Situation hätte ich alles getan, um nicht gemeldet zu werden. Ich wollte nicht länger am Rand bleiben als nötig. „Versprichst du mir, das nächste Mal zurück zu schlagen."

Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand. Mit vielem hatte ich gerechnet, nur damit nicht.
„Ich... äh..."
Wie hatte ich darauf zu reagieren?

„Ich schlägere mich normalerweise nicht" brachte ich schließlich hervor. Jetzt kam ich mir wirklich wie ein kleines Kind vor.

Doch Damian blieb ernst. „Darum geht es nicht." Ich war vollkommen verwirrt. Er war eine Wache, und stiftete mich zu Gewalt an? Anscheinend bemerkte er meinen hilflosen Gesichtsausdruck.

„Hör zu" fing er zögernd an. „Ich weiß, wie das mit Schlägern läuft. Und ich weiß, dass sie nicht aufhören. Es sei denn, man wehrt sich." Sprach er aus Erfahrung? „Schläger suchen sich immer die Schwächsten raus. Der einzige Weg, sie loszuwerden, ist es, nicht der Schwächste zu sein."

Ich war überwältigt von der Eindringlichkeit seiner Worte. Er sprach eindeutig aus Erfahrung. Und jetzt wartete er auf eine Antwort von mir. Ich sagte das erste, das mir einfiel. „Du meinst also, ich bin schwach."

Damian sah mich irritiert an, dann fing er an zu lachen. „Das habe ich nicht gesagt!" „Das kam aber so rüber" hielt ich dagegen. Ich fand das gar nicht witzig. „Das ist alles, was du aus meiner Rede behalten hast?" Er lachte noch ein bisschen mehr.

Ich versuchte, ihn mit meinen Blicken zu töten. Die ganze Situation war echt merkwürdig. Ich fing an, zu grinsen, ohne es zu wollen. Das liegt nur an seinem dummen Lachen, sagte ich mir selbst. Dann lachte ich auch.

Es tat gut. Einfach den ganzen Stress der letzten paar Tage rauszulachen. Wann hatte ich zuletzt gelacht?

Als wir beide vor Lachen kaum noch atmen konnten, beruhigten wir uns wieder. Ein Wunder, dass uns niemand gehört hatte. Erst jetzt fiel mir auf, wie viel lockerer Damian hier drauf war. Immer, wenn ich ihn bisher gesehen hatte, war er das reinste Nervenbündel gewesen.

„Aber mal im Ernst: Wehr dich nächstes mal." Ich nickte. Dann stand ich auf und klopfte meine Hose ab. Wir standen uns für einen Moment unschlüssig gegenüber. Damian machte als erster Anstalten, zurück zu gehen.

„Danke" sagte ich aus dem Nichts. „Schon in Ordnung." Wir lächelten uns kurz an. Dann drehten wir uns beide in die Richtungen, aus denen wir gekommen waren.

Kurz, bevor er um die Ecke des Gebäudes bog, drehte Damian sich noch einmal um.
„Ach und Carolina... Du bist nicht schwach." Dann verschwand er.

BerlinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt