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Ich bekam alle Zeit, die ich brauchte. Jeder behandelte mich wie mit Seidenhandschuhen. Ich durfte meinem Unterricht fern bleiben. Jenem Unterricht, den ich seit ich denken konnte nicht hatte ausfallen lassen dürfen, egal wie krank ich wurde. Außer das eine mal. Nach dem Tod meiner Mutter. Auch wenn ich den Unterricht verabscheute - dass er statt fand, war dennoch eine Konstante, die mein Leben im Gleichgewicht hielt. Solange der Unterricht statt fand, war alles in Ordnung. Jetzt fiel er aus.

Zum zweiten Mal in meinem Leben verging eine ganze Woche, ohne dass jemand mich zwang, mir neue Praktiken anzueignen, die ich „später mal brauchen würde“. Um das Familiengeschäft zu leiten.
Taktisches Training, Esperanto, Mathe, Kampftraining. Und so weiter.

Ich konnte nicht mehr. Nur in meinem Bett zu liegen war so unendlich anstrengend. Ich wollte aufstehen, raus gehen, ein paar Runden rennen. Ich könnte heulen. Nie bekam ich den Kopf so frei wie beim Rennen, wenn jeder Muskel meines Körpers sich anspannte, wenn ich gerade zu spüren konnte, wie meine Lungen meinen Körper mit Sauerstoff versorgten, bis sie brannten als ständen sie in Flammen. Der Rausch der Geschwindigkeit. Nichts konnte dieses Gefühl ersetzen. Für mich war es wohl für immer verloren.

Einer der Leibwächter, die vor der Tür Wache hielten, betrat den Raum. „Besuch“ verkündete er knapp. Mit seinen gut zwei Metern Größe und seinen breiten Schultern versperrte er die ganze Tür. Ich konnte nicht sehen, wer da war, es mir aber denken. Sie war nicht das erste mal hier diese Woche. „Ich möchte keinen Besuch“ ließ ich ihn wissen. Meine Stimme klang brüchig, ich erschrak selbst. Wie lange hatte ich nichts gesagt? Seid ich meinem Vater bei seinem letzten Besuch gesagt hatte, dass ich mich besser fühlte, hatte ich nur über Nicken und Kopfschütteln kommuniziert.
Dieser Besuch war drei Tage her. Erstaunlich, wie schnell mein Vater Besseres zu tun hatte, stellte ich verbittert fest. Der Leibwächter drehte sich wieder Richtung Tür. Eine schmale, fast drei Köpfe kleinere Person nutzte den entstehenden Platz, um sich an ihm vorbei ins Zimmer zu quetschen. Ich sah die hellblonden Haare und wusste, dass ich mit meiner Vermutung richtig gelegen hatte.

„Du spinnst doch“ wetterte das Mädchen in meinem Alter los, den Leibwächter ignorierend, der sie empört ansah. „Mich jedes Mal wieder wegzuschicken, als ob ich mir keine verdammten Sorgen um dich machen würde, du aufgeblasenes Arschloch!“
„Es ist auch schön, dich zu sehen, V.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ach, sei doch still.“ Mit Schwung flog ihre Tasche in die nächste Zimmerecke. Vanessa strich sich theatralisch durch die Haare. „Gibts ein Problem?“ herrschte die den Wächter an. Dieser war sichtlich von ihrer Frechheit überrumpelt. Unsicher sah er zu mir. Ich bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, dass alles in Ordnung war und er wieder raus konnte. Nickend verschwand er wieder in den Flur.

„'Liebe über dem Meer'? Ist das dein Ernst?“ Vanessa hob eine Augenbraue, etwas, das sie oft tat, um mich zu ärgern. Ich brauchte einen Moment, um ihre Frage einzuordnen. Sie bezog sich auf den Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand. Ich hatte nur im Hintergrund ein paar Filme laufen lassen, um mich nicht ganz so alleine zu fühlen. Dabei achtete ich kaum darauf, was genau ich mir da ansah. Im Moment lief die wohl größte Schnulze, die Berliner Mediatheken zu bieten hatten. „Du alter Romantiker.“ Ihr schien es zu lange zu dauern mit meiner Antwort. Ich und ein Romantiker. Wir lachten kurz darüber, dann ließen wir das Thema fallen. Vanessa quetschte sich neben mich auf das Krankenhausbett und wechselte den Sender. „Alles okay?“

Ihr Ton klang beiläufig, aber aufrichtig, und ich war ihr so dankbar. Vanessa war die wahrscheinlich beste Person in meinem Leben. Sie mochte zwar etwas... speziell sein, aber sie war seit ich denken konnte meine einzige wirkliche Freundin und der einzige Mensch, der mich verstand. Auch ohne Worte. Sie verstand, dass ich nicht über mein Bein reden wollte, und gab mir mit dieser allgemeinen Frage den Freiraum, nur soviel zu sagen, wie ich wollte. „Mir geht's scheiße. Aber lass uns über was anderes reden, ja?“ Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter. „Tut mir leid, dass ich nicht mit dir geredet habe.“

„Sei doch still du Idiot. Ich versteh's doch. Wenn du reden willst, ich bin immer für dich da.“ Ich wollte nicht darüber reden. Noch nicht. Irgendwann würde ich es ihr erzählen, aus meiner Sicht. Aber noch war der Schmerz, war die Wut zu groß. Vielleicht war das das Besondere an unserer Freundschaft. Wir mussten nicht reden. Wir erzählten uns nicht alles, und dennoch - wir verstanden uns gegenseitig, wir kannten uns so gut, ohne alles zu wissen.

Ich sah Vanessa aus den Augenwinkeln lächeln. Ich hatte nicht gelächelt seit dem Vorfall, wie alle das Geschehene nun nannten. Doch nun erwischte ich mich dabei, wie meine Mundwinkel nach oben wanderten. Und ich ließ es zu.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 12, 2016 ⏰

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