Eloise

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12. Oktober

Draußen scheint die Sonne. Was für eine Ironie. Die Glastür gleitet automatisch auf und ich trete auf die Straße, folge Mama zu Papas schwarzem Kombi. Keiner von uns sagt etwas. Ich hasse das. Dieses endlose Schweigen, die vorwurfsvollen Blicke, welche mir von meinen Eltern zugeworfen werden.
Ich hätte sterben können, ja. Ich hätte niemals abends um 23 Uhr mit hundert Sachen auf einem Motorrad durch die Straßen fetzen sollen, ja. Sie hatten es ja immer gesagt, Eloise wäre kein guter Umgang für mich, nein. Aber natürlich würden sie mir in dieser schweren Zeit beistehen, ja. Aber das Schweigen ist immer noch besser als der Psychodoktor im Krankenhaus. Zwei Wochen. Es kommt mir vor, als wäre der Unfall gestern gewesen, doch die fast ganz verheilte Narbe an meinem Fußgelenk macht mir auf schmerzhafte Weise klar, dass Eloise schon länger tot ist. Tot. Morgen findet ihre Beerdigung statt. Ich soll eine Rede halten, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich könnte von unserer Freundschaft erzählen. Davon, wie wir stundenlang einfach im Park auf der Wiese gelegen und geschwiegen haben. Eloise war die Einzige, bei der die Stille nicht niederdrückend, sondern nichts weiter als eine angenehme Wortlücke war. Ich könnte die Menschen, ihre Familie, alle Angehörigen, auch daran teilhaben lassen wie wir bis weit nach Mitternacht an der Seine gesessen hatten, uns alles erzählten und von der Seele redeten, während meine beste Freundin eine Zigarette nach der anderen rauchte. Bei ihr hatte mich das nie gestört, obgleich ich den Geruch von dem schmutzigen Qualm hasste. Von ihrer Leidenschaft für waghalsige Aktionen, bei denen ich jedes Mal meine Zweifel gehabt hatte. Doch Eloise hatte mich immer überredet. Ein bittender Blick aus ihren undeutbaren grünen Augen und ihre Wortgewandtheit hatten gerreicht. "Anaëlle, dir wird nichts passieren. Ich bin bei dir und ich verspreche dir, dass alles gutgehen wird. Das Leben ist ein Spiel. Und wenn du die Regeln kennst, dann kannst du es leicht gewinnen. Du weißt doch, dass wir gewinnen, nicht? Das tust du doch!" Und dann war ich ihr gefolgt, auf die Geländer von Brücken, auf Dächer, in Nachtclubs. Ich vermisse das. Ich vermisse alles und die Leute auf der Beerdigung sicher auch, wenngleich es andere Dinge an Eloise sind, die ich vielleicht niemals kennengelernt hatte. Denn niemand hatte sie je vollkommen kennen können. Seufzend steige ich in unser Auto ein, meine Mutter nimmt mir wortlos meine Krücken ab und schiebt die Tür hinter mir zu. Aber ich will Eloise mit niemandem teilen. Ich will nicht, dass diese Leute, von denen ich manche nicht einmal richtig kenne, unsere Geschichte hören. Ich weiß, dass das egoistisch ist, aber mir ist auch klar, dass es falsch wäre, ihnen alles zu erzählen. Das hätte nur Eloise selber tun können. Also bleibe ich still, diesen Tag und die Tage danach ebenfalls. Die Rede bleibt mir erspart, weil meine Therapeutin sagt, dass das die Nachwirkungen eines Schocks sind, weil mir jetzt bewusst wird, was passiert ist. Sie redet Müll. Mir ist längst bewusst, was geschehen ist. Ich habe es vom ersten Moment an gewusst, als ich meine Augen aufschlug, mein Körper nach Wasser lechzte und ich an die weiße Krankenhausdecke gestarrt habe. Dieses Mal hatte Eloise das Spiel, wie sie ihr Leben immer zu nennen gepflegt hatte, verloren. Dieses Mal hatte ihre Aktion nicht im Gefängnis oder in Sozialstunden, sondern im Sarg geendet. Meine beste Freundin ist tot.

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