Seine

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Am darauffolgenden Tag regnet es nur bis zum frühen Nachmittag, danach bleibt es erstaunlicherweise trocken. Als ich nach der Schule nach Hause komme steht Louis' Vespa nicht vor der Tür. Komischerweise kommt mir die sandfarbene Hauswand nun beinahe kahl vor, ohne die rote Schrottkamelle davor, doch ich schüttle den Gedanken ab und eile hoch in unsere Wohnung. Wenn ich bis 18 Uhr fertig sein will, muss ich mich beeilen. Wir haben einen Batzen an Hausaufgaben aufbekommen und frischmachen muss ich mich auch, obwohl Louis bloß mein Nachbar ist. Mein hübscher, britischer Nachbar. Seufzend beginne ich also, mich mit verschiedenen Funktionen und Graphen zu beschäftigen. Um 17.45 beschließe ich, dass es genug ist. Es bleiben nur noch zwei Teilaufgaben übrig, die werde ich einfach am Morgen vor der Schule machen. Es wäre nicht das erste Mal und mein Mathelehrer kommt eh immer zu spät. Also schlüpfe ich stattdessen in ein paar khakifarbene Chinohosen, streife mir eine Bluse über und trage etwas Mascara auf. Das muss reichen, in Anbetracht der Tatsache, dass mir gerade mal drei läppische Minuten bleiben, um mir meinen Rucksack zu schnappen, in meine Sneaker zu schlüpfen und die Treppe hinunterzurennen. Louis fängt mich in der zweiten Etage ab. "Hey, nicht so stürmisch", lacht er und versucht sich dann an den französischen Wangenküsschen, mehr schlecht als recht. Unsere Köpfe prallen unangenehm aneinander und ich atme vor Schmerz scharf ein. "Alles okay?", erkundigt Louis dich und schaut mich aus reuevollen Augen an. Ich winke ab. "Passt schon. Bevor noch mehr passiert, gehen wir?" Mein Begleiter nickt eifrig und drückt mir einen schwarzen, zerkratzten Motorradhelm in den Arm. Ich schlucke. Wäre Eloise noch am Leben, hätte sie in der Nacht einen Helm getragen? Verdammt, wieso hatte ich sie nicht dazu gezwungen, einen aufzusetzen? "Ist mein Alter, der müsste eigentlich passen", sagt Louis und reißt mich somit as meinen Gedanken. Er nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich die Treppe hinunter. Unten hält er mir die Tür mit den Worten 'nach dir' auf und hält meinen Rucksack, während ich auf sein altes Gefährt klettere, skeptisch, weil ich mir noch nicht ganz sicher bin, ob es uns beide sicher durch die kleine Spritztour tragen wird. Als ich Louis darauf anspreche, winkt er gelassen ab, dann schwingt er sich auf den Sitz vor mir und drückt mir meine Tasche wieder in die Hand. "Gut festhalten." Anfangs gibt der Motor ein paar unvertrauenswürdige Geräusche von sich, doch dann berappelt er sich und wir tuckern langsam unsere Straße runter, am Sänger vorbei, dem Louis zuwinkt. An der Kreuzung biegen wir links ab. "Wo fahren wir eigentlich hin?", brülle ich gegen den aufkommenden Fahrtwind an, doch Louis antwortet mir nicht. Entweder er hat mich nicht gehört, oder er will es mir einfach nicht sagen. Aufmerksam beobachte ich die Umgebung. Wir verlassen das Quartier Latin und folgen breiten Straßen. Dann wird es mir klar. Er will zur Seine. Verstohlen verdrehe ich die Augen unter meinem Helm. Das Problem ist gar nicht mal, dass mir die Seine nicht gefällt. Aber eine leise Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass wir uns dieses Mal nicht einfach nur mit einer Tüte Chips auf eine Parkbank setzen und über Lehrer und Mitschüler lästern, so wie ich es immer mit Eloise getan habe. Eloise, die genauso wie ich und trotzdem das Gegenteil war. Eloise, die mehr geraucht hat als jeder andere Mensch, den ich kenne. Eloise, die die Angewohnheit hatte, eine ganze Menge Sätze anzufangen, ohne ihnen ein Ende zu schenken. Ich wünschte, sie hätte es getan. Ich wünschte, sie hätte mir mehr Worte hinterlassen. Eloises Worte sind das Wertvollste, was ich besitze. Waren sie immer. Sie hatte nie etwas gesagt, das jemand anderes auch so hätte sagen können. Irgendwie hatte sie immer geschafft, Worten eine Ausdrucksweise zu geben, die kein anderer je hätte haben können. "Anaëlle?" Louis klopft leicht auf meinen Helm und ich setze ihn hastig ab. "Sorry", flüstere ich leise und ergreife seine Hand, damit er mir von der Vespa helfen kann. Er ist so nett. Ich kenne keinen Jungen, der so ist. Überhaupt habe ich nicht viel Kontakt zum anderen Geschlecht, den Part hatte ebenfalls Eloise übernommen. Und es hatte mich nie sonderlich gestört. Louis und ich schlendern am Ufer entlang, er erzählt mir eine ganze Menge, doch ich höre nicht zu. Ich mustere jede einzelne Laterne, die Bänke und schließlich sogar die Pflastersteine. Überall klebt Eloise. Ich sehe sie vor mir, an jedem einzelnen Fleck, an dem sie gewesen ist. In den letzten Wochen habe ich die Seine gemieden, in dem Wissen, dass die Erinnerungen wiederkommen. Beschämt wische ich mir über meine feuchten Augen. "Alles okay?" Ich spüre Louis' fragenden Blick auf mir und nicke. Ich sehe ihm an, dass er gemerkt hat, dass ich lüge und rechne ihm hoch an, dass er nicht weiter nachfragt. Stattdessen umarmt er mich, ohne nachzufragen, warum sein Shirt auf einmal ganz nass ist. Und dann kauft er beim nächsten Essensstand eine Tüte mit Süßigkeiten, die ich mir selber aussuchen darf und sagt 'die mag ich auch am liebsten', als ich eine ganze Menge saurer Würmer in die Tüte schaufle. Danach setzen wir uns auf die Mauer der oberen Promenade und lassen die Beine baumeln, während wir die Tüte langsam leeren. Louis schweigt nicht wie Eloise, er redet. Er redet über Gott und die Welt, über alles was ihm einfällt und es nervt mich nicht. Stattdessen lenkt es mich ab und ich erwische mich dabei, wie ich das fast noch besser finde, als die friedliche Stille. Es kommt mir wie ein Verrat an Eloise vor.

EloiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt