Paris

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4. November

"Paris is always a good idea." Das sind die Worte von Audrey Hepburn, aber meine liebe Audrey, ich weiß nicht, ob du in deiner äußerst tiefsinnigen Bemerkung auf Momente wie diese angespielt hast. Um ehrlich zu sein, ich bezweifle es stark.
Bei dem Gedanken muss ich schmunzeln. Ich sitze im dritten Stock einer Altbauwohnung im 5. Arrondissement auf einer Fensterbank und beobachte, wie der Regen in Sturzbächen an meinem Zimmerfenster hinunterrinnt. Es ist Oktober und das Wetter somit nichts Ungewöhnliches. Nicht dass es mich stören würde, ich mag Regen. Etwas anderes kenne ich auch nicht. Schnee zum Beispiel. In Paris schneit es nämlich nicht im Winter. Es regnet. Und obwohl London das Vorurteil der verregnetesten Stadt überhaupt nachgesagt wird; ich bin mir ziemlich sicher, dass es im pariser Winter mehr regnet als in London im ganzen Jahr.
Es ist 21 Uhr abends und der junge Straßenmusiker unten vor unserer Haustür trotzt dem Regen mit einem selbstimprovisierten Zelt aus Regenschirmen, und Tonverstärkern unter den Regenschirmen, und Müllsäcken mit Löchern über den Tonverstärkern und einer Holzplatte auf Rädern unter den Tonverstärkern und den Regenschirmen und das ganze hält merkwürdigerweise. Ich bedaure es sehr, denn seit zweieinhalb Stunden plärrt er einen Hit nach dem anderen und ein Haufen Menschen umringt ihn und klatscht, pfeift und macht Videos. Was bedeutet, dass es zu laut ist, um meine Hausaufgaben zu beenden. Ich habe eh keine Lust darauf. Schule interessiert mich nicht. Nicht mehr, seid der Platz neben mir unwiderruflich leer ist. Seufzend schüttele ich den Gedanken ab. Ich denke an etwas Schönes, so wie meine Therapeutin es mir gesagt hat. Was nicht weniger schwer ist, denn all die schönen Dinge beginnen bei Eloise. Immer. Sogar die Nacht, in der wir beide viel zu schnell auf ihrer alten Maschine durch die bei Nacht beleuchteten Straßen gefetzt sind. Selbst als die Maschine gerammt wurde und sich überschlug, pumpte das kribbelnde Gefühl durch meine Adern, welches nur Eloise hervorrufen konnte. Selbst als sie auf der nassen Straße lag und ich wusste, dass es aus war. Dass sie verloren hatte. Und ich dachte damals auch, dass es vorbei war. Oder dass ich wenigstens eine Runde aussetzen könnte. Doch irgendwie hatten sie mich zusammengeflickt. Der Sänger stimmt 'Fast Car' an. Er steht jeden Abend da unten, seit fast eineinhalb Wochen und singt jeden verdammten Abend dasselbe verdammte Programm. Und jedes Mal bin ich kurz davor, runterzugehen, einen Hunderteuroschein in seinen blöden Gitarrenkasten (der heute auch halb von einem schwarzen Müllsack verdeckt wird) zu werfen und ihn anzuflehen sich endlich einen anderen Ort zu suchen, um die dortigen Anwohner mit seinem Gesang zu beglücken. Ich habe nichts gegen junge Studenten, und so sieht dieser Mensch da unten unter dem Regenschirmgebilde eindeutig aus, die sich etwas Geld durchs Singen dazuverdienen. Ich unterstütze das voll und ganz, nur eben nicht, wenn es direkt vor meiner Haustür geschieht. Ich frage mich noch heute, was meine Eltern damals geritten hat, als sie eine Wohnung im Quartier Latin erworben haben. Wahrscheinlich das, was alle reitet, die hier eine Wohnung besitzen. Die Immobilien hier sind nett, keine Frage, ich kann mich über unsere Wohnung nicht im Geringsten beschweren, sie ist groß, hell, hat hohe Decken und ist auch sonst ziemlich luxuriös und das nicht nur für Paris. Aber der Geräuschepegel und das Nachtleben, welches vollständig auf der Straße stattfindet, sind enorm. Mama sagt, das ist romantisch. Papa sagt, er mag die Atmosphäre. Das was Paris für andere besonders macht, ist für mich entweder Alltag oder nervraubend. Ich schätze, das ist einfach so, wenn man seine gesamte Kindheit in den verrauchten Abgasen verbracht hat. Ich liebe meine Heimatstadt, natürlich. Es kann ganz nett hier sein. Aber die rosarote Brille habe ich eben nicht mehr auf. Paris ist nicht mehr die Stadt der Liebe oder die des Lichtes. Der farbige Kreis auf dem Boden der ersten Plattform des Eiffelturms, der das Wort "Kissing Place" beinhaltet ist schon verblasst und die alten Straßenlaternen wurden längst gegen riesige Leuchtreklamen von Pizza Pino und McDonalds ausgetauscht. Paris ist wie jede andere Goßstadt. Beinahe. Denn ohne Eloise ist nichts mehr dasselbe.

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