Montparnasse

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Am Tag nach Hugos Geburtstag bin ich schlecht gelaunt. So sehr, dass meine Eltern sich bereits diskret aus der Küche verziehen, als ich bloß den Kopf durch die Tür stecke. Am Vorabend bin ich bis 3 Uhr nachts mit Louis auf dem Dach geblieben. Es war schön, aber die ganze Zeit war da etwas, das ich nicht in Worte fassen konnte. Es stand zwischen uns und hielt uns davon ab, normal zu sein. Vielleicht waren es Louis unausgesprochene Gedanken, von denen ich noch immer hoffte, dass er sie mir von selbst anvertrauen würde. Als wir schließlich heimgekehrt waren und ich in mein Bett gefallen war, plagten mich die entsetzlichen Albträume das erste Mal wieder seit der Zeit kurz nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Immer waren es Szenen von Eloises leblosen Körper auf der regennassen Straße, der so verloren zwischen den bunten Farben der Ampeln wirkte, die der Asphalt widerspiegelte. Und immer wollte ich zu ihr hinrennen und ihr helfen, doch ich lag ebenfalls am Boden und konnte mich nicht bewegen, sondern nur auf den blutüberströmten Knochen an meinem rechten Fuß blicken, der sich während des Aufpralls irgendwie in eine denkbar ungünstige Stellung begeben hatte und mir nun entgegen grinste, etwas, das er absolut nicht hätte tun sollen. Als ich endlich schweißgebadet aufgewacht war, war es erst 5 Uhr, doch trotz der Müdigkeit wehrte mein Körper sich hartnäckig gegen eine weitere Mütze Schlaf. Ich seufze über die hochkommenden Erinnerungen und versuche vergebens die tiefen, dunklen Augenringe mit dem Concealer meiner Mutter zu überdecken. Doch statt dem versprochenen natürlichen Frischeeffekt, der auf der Verpackung von einer strahlend lächelnden Frau demonstriert wird, sieht es bei mir bloß künstlich und irgendwie geschminkt aus. Also wasche ich das Trauerspiel wieder ab und beschließe, dass Louis sich heute so mit mir abfinden werden muss. Es ist ein Ausflug zum Tour Montparnasse geplant, weil Louis den am Vorabend faszinierend gefunden hatte und ich ebenfalls lange nicht mehr dort gewesen war. Müde schleppe ich mich zur Haustür, schlüpfe in meinen Wollmantel, schnappe mir meine Tasche und den Schlüssel und verlasse die Wohnung, um den einen Stock zu Louis hinunterzusteigen. Dieser reißt gut gelaunt seine Haustür auf, sodass ich überrascht einen Schritt zurücktrete. Das ist eindeutig zu viel Energie für diesen Morgen. Wir begrüßen uns und ich warte kurz, bis Louis ebenfalls Schuhe und Jacke trägt, dann gehen wir gemeinsam runter und treten aus dem Gebäude. Wie gewohnt schwingen wir uns auf die Vespa, doch heute ist etwas anders. Louis dreht den Schlüssel mehrmals um, doch statt dem gewohnten Knattern gibt das Gefährt heute nur ein müdes Schnauben von sich und macht nicht die kleinste Anstalt, sich vom Fleck zu bewegen. "Shit", flucht Louis, setzt sich seinen Helm ab und schaut mich fragend an. Ich zucke mit den Schultern. "Dann lass uns eben die Metro nehmen", schlage ich vor, denn um den Weg zu Fuß zurückzulegen bin ich eindeutig zu müde. Louis nickt begeistert. Während wir zur nächsten Station gehen telefoniert er mit einer naheliegenden Werkstatt, die seine Maschine noch heute abholen wird. Als er auflegt müssen wir nur noch eine Straße überqueren, auf der anderen Seite leuchtet uns das Metropolitanschild bereits in rot entgegen. "Ich bin erst zweimal mit der Metro gefahren seit ich hier bin", berichtet mir Louis freudig und ich schaue ihn überrascht an. "Ehrlich?" "Ja. Ich hatte doch immer meine Vespa." Die Ampel ist noch immer rot, doch weil kein Auto kommt überqueren wir die Straße trotzdem. "Und Anaëlle, wusstest du, dass die pariser Metro die die Viertälteste Europas ist? Hinter London, Budapest und Glasgow. Sie existiert seit 1900." Ich zucke unbeteiligt mit den Schultern, und nehme immer zwei Stufen, während wir die Treppen zur Station hinuntersteigen. "Wahrscheinlich schon", antworte ich, denn unser U-Bahn System ist nun wirklich nichts Besonderes für mich. "Für dich ist das normal, aber eigentlich ist das fast so etwas wie ein historisches Denkmal. Ich finde es Wahnsinn. Stell dir mal vor, wie viele Menschen schon über den Boden gelaufen sind, auf dem wir uns gerade befinden." Louis lässt sein Ticket durch den Automaten schnappen, während ich meine Jahreskarte einfach nur darübergleiten lasse. "Ja", antworte ich schlicht und schlage den Weg zur Metrolinie 4 ein, die uns direkt zu Montparnasse Bienvenüe bringen wird. Louis ist noch immer nicht von seinem Metrotrip runtergekommen. "Du schätzt all diese Dinge gar nicht wert", beschwert er sich und ich lache leise. "Welche Dinge?" "Die Metro, all die Sehenswürdigkeiten, die kleinen Cafes.... Du schätzt Paris nicht wert", wirft Louis mir vor. Er läuft mir vertrauensvoll hinterher, während ich den gewohnten Weg zum richtigen Bahnsteig entlanglaufe. Ich kenne ihn mittlerweile im Schlaf. "Klar tu ich das", widerspreche ich und beginne zu rennen, weil ich am Ende des Tunnels sehe, wie unsere Bahn gerade ankommt. Wir schaffen es gerade noch rechtzeitig, bevor die Metalltüren hinter uns zuschnappen. Ich wende mich wieder an Louis. "Ich... ich find das auch total beeindruckend. Alles. Ich mag Paris, wirklich. Aber das hier...", ich mache eine umschweifende Bewegung, bei der ich einem Mann beinahe sein teueraussehendes Handy aus der Hand fege und mir einen bösen Blick einfange, "das ist so normal für mich. Ich bin damit aufgewachsen und es ist mein Alltag. Ich kann es nicht als besonders empfinden." Nachdenklich beobachte ich die Dunkelheit, die draußen vor dem Fenster an uns vorbeizischt. Ich denke an meinen Traum und dann zwangsläufig an Eloise. Sie hat Paris immer besonders gefunden. Sie hatte ihre Heimatstadt geliebt und gleichzeitig gehasst. "Irgendwann, Anaëlle, werde ich ausbrechen. Von hier weg. Denn ich weiß, dass ich es hier irgendwann nicht mehr aushalten werde. Versteh mich nicht falsch. Es wird mir nichts jemals so schwer fallen. Aber ich weiß, dass ich hier nicht altwerden kann. Es wäre irgendwie falsch, weißt du?" Nein, ich wusste nicht. Rein überhaupt gar nichts. Und ich würde sie auch niemals genauer danach fragen können, weil... "Hey, wir sind da. Glaube ich zumindest. Mein Menschenverstand sagt mir jedenfalls logischerweise, dass Montparnasse Bienvenüe richtig ist." Ich nicke gedankenverloren und folge Louis zur Tür. Wir verlassen die Station und überqueren den kleinen Platz zum Eingang. Louis zahlt den Eintritt für uns beide, ich protestiere kurz, doch er lässt sich nicht umstimmen und so lasse ich ihn machen. Wir nehmen den Fahrstuhl bis zur Dachterasse und dann mutiert mein Freund plötzlich zu einem schrecklich nervigen Touristen. Er zieht einen blauen Selfiestick aus seinem Rucksack und wir beginnen alberne Selfies von uns vor dem Geländer zu schießen. Und zugegebenermaßen ist das sogar echt witzig. Irgendwann werden wir still und setzen uns auf eine Bank am Rand. Von hier aus kann man den Eiffelturm sehen, der zwischen den Häuserdächern hervorragt, von einer Smogwolke umhüllt. Und dann ist da wieder diese merkwürdige Stille. Ein paar Mal schaue ich Louis von der Seite an und will etwas sagen, doch plötzlich weiß ich nicht was. Stattdessen ergreift Louis irgendwann das Wort. "Hugo...", beginnt er einen Satz und ich rolle leicht mit den Augen, als er ihn abbricht. "Nun sag schon. Was ist mit Hugo," "Er... Denkst du, aus euch könnte was werden? Ich hatte gestern das Gefühl, dass er dich ganz schön gerne mag", rückt er schließlich mit der Sprache raus und ich kicher kurz auf. Dann schüttel ich den Kopf, dass meine Haare fliegen. "Wie kommst du drauf? Er hat gerade erst mit seiner Freundin schlussgemacht und außerdem habe ich echt keine Interesse an ihm. Ehrlich nicht." Ohne Louis ansehen zu müssen, weiß ich, dass er grinst. "Gut", sagt er. "Wirklich gut. Ich dachte schon, ich habe bald niemanden mehr, der mir Paris zeigen kann", sagt er und ich lache. "Nein, keine Sorge, mich wirst du nicht so schnell los. Und selbst wenn." Nun drehe ich mich zur Seite und schaue Louis direkt an. "Selbst wenn ich irgendwann einen Freund hätte, ich würde dich niemals links liegen lassen. Das weißt du doch, oder? Du bist mir wirklich wichtig geworden." Louis blickt mich nicht an, sondern starrt weiterhin geradeaus und nickt unmerklich. "Du mir auch", sagt er. Wieder entsteht eine lange Pause, bis ich beschließe, ihm von meinem Albtraum zu erzählen. "Ich... Ich habe heute Nacht wieder von ihr geträumt", flüstere ich schließlich, es klingt verzweifelter als gewollt und nun habe ich Louis ganze Aufmerksamkeit auf mir. Er schaut mich so intensiv an, dass ich das Gefühl habe, er könnte in mich hineinblicken. Vielleicht kann er das ja auch, denn ich brauche ihm nicht mehr zu erzählen, er versteht einfach. Stattdessen frage ich:"Wird es jemals verschwinden?" "Nein. Du hast sie geliebt. Natürlich wird sie immer in deinem Herzen bleiben. Sie wird nicht einfach weggehen, du kannst sie nicht einfach wegschließen und vergessen. Das Einzige was du tun kannst, ist zu warten. Es wird zwar nicht verschwinden, aber es wird besser werden. Versuch dich einfach an die schönen Dinge zu erinnern, okay?" Das ist das, was ich an Louis liebe. Er kann so albern sein und dann so ernst. Er kann so schlaue Dinge sagen, die irgenwie immer alles besser machen. Stumm nicke ich. Ohne ein Wort darüber wechseln zu müssen erheben wir uns synchron und gehen den Weg zum Aufzug zurück. Wir laufen die ganze Rue de Rennes hinunter bis zum 6. Arrondissement, wo wir den restlichen Tag verbringen. Wir kaufen eine Menge zu essen und gehen in die teuersten Geschäfte, vorgebend, wir wären so reich, dass wir jedes einzelne von ihnen ganz aufkaufen könnten. Und keiner bezweifelt das, keine einzige Sekunde lang. Und als wir irgendwann erschöpft aus VALENTINO rausstolpern, wieder ohne etwas gekauft zu haben, weil die aktuelle Kolmektion 'ja überhaupt nicht nach unserem Geschmack ausfallen würde und wir auf keinen Fal etwas aus der alten kaufen würden', ist es bereits dunkel und ich bin so erschöpft, dass ich das Gefühl habe, jeden Moment umfallen zu müssen. Wir beschließen, den Bus für den Rückweg zu nehmen und setzen uns auf die Bank neben der Haltestelle. Und zwischen den ganzen grellen Lichtern, dem Gestank von Abgasen und den lauten Motorengeräuschen und Stimmen sagt Louis etwas, über das ich den ganzen restlichen Rückweg nachdenken muss. "Weißt du, Menschen neigen dazu, Dinge zu verdrängen. Sie sagen sich so lange, dass es okay ist, bis es ihrer Meinung nach wirklich okay ist. Dabei ist es das nicht. Es ist wie heute. Wir haben uns so lange gesagt, dass wir unendlich reich sind, dass man es uns irgendwann wirklich geglaubt hat. In jedem einzelnen dieser krankhaft teuren Geschäfte. Aber reich sind wir deshalb trotzdem nicht. Was ich damit sagen will ist, dass Verdrängen nicht hilft. Lass den Gedanken an Eloise einfach freien Lauf. Hab so viele Albträume wie du willst, weine, schreie, aber verdräng es nicht. Ich glaube, das ist die Lösung zur Besserung."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 30, 2017 ⏰

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