Völlig gerädert stand ich vor meinem Spiegel. Vor mir ein dürres, zusammen gefallendes Mädchen. Ihr Gesicht blass, nur ihre geschwollenen, roten Augen schenkten den Gesicht Farbe. Die Schultern hängen kraftlos an ihren Körper. Die schwarze enganliegende Hose und das schwarze T-Shirt trugen mehr ihren Körper, als der Körper die Kleidung. Ich musterte ihr Gesicht, ihre Augen. Es hatte jeglichen Glanz und Lebensfreude verloren, es war nur noch Leere und Schmerz in ihnen zu lesen. Irgendwann war ich mal dieses Mädchen gewesen, doch nun konnte ich keinerlei Verbindung zu ihr finden.
Ich hatte die ganze Nacht kaum geschlafen. Ich träumte von Kim, wie sie mich in den Träumen besuchte, sie sagte jedoch nichts, starrte mich nur an. Ich wollte sie berühren, doch jeden Schritt, den ich auf sie zu ging, entfernte sie sich, wurde immer unklarer, bis sie schließlich völlig verschwand.
„Fie, wo bleibst du denn?", ich hörte meine Oma zwischen den Stimmen nach mir rufen.
Unser Haus war voll, Bekannte, Freunde und Verwandte waren gekommen, um sich von Kim zu verabschieden. Alle kannten sie, alle liebten sie, alles vermissten sie, aber keine konnte verstehen, wie ein so junges Mädchen aus dem Leben gerissen wurde. Sie hatten viel philosophiert, geträumt, gerätselt, das war auch der Grund warum ich in mein Zimmer ging. Ich konnte es nicht ertragen. Heute war ihre Beerdigung und ich war jetzt schon völlig am Ende. Ich hatte das Gefühl, dass ich auch ein Teil von mir beerdigen würde. Mit schlürfenden Schritten quälte ich mich die Treppenstufen hinunter. Vor mir die ganzen Leuten. Alle in Schwarz, alle mit weißen Rosen in den Händen, einige offen am trauern, ließen ihren Tränen freien Lauf, andere trauerten still in sich. Ich konnte nicht weinen. Ich fühlte mich so leer, wahrscheinlich wusste mein Körpern, wenn ich nun anfangen würde, dass ich niemals aufhören könnte. Meine Oma drückte mir die weiße Rose in die Hand und wir machten uns auf dem Weg zu den Autos. Jeder verteilte sich in ihren Autos, ich ließ mich mit einer Freundin von meiner Oma auf die Rückbank fallen. Mein blick starr aus dem Fenster und meine Finger fest umschlungen, um die weiße Rose, die am Stängel noch leicht nass war von dem Wasser. Das Auto bewegte sich vorwärts und alles sauste an mir vorbei, die anderen Autos, Bäume, Straßen, Läden ohne, dass ich ihnen große Aufmerksamkeit schenkte.
Dann kamen wir langsam auf dem Berg zu, ich musste hart schlucken, denn der Klos in meinem Hals raubte mir fast die Luft zum atmen und mein Magen zog sich mit einen Ruck schmerzhaft zusammen. Wir wurden langsamer, da die Ampel am Ende des Berges rot schaltete und ich verfluchte das Schicksal, dass mich so quälte. In Zeitlupe kamen wir an der Stelle an, an der alles passierte und mir stockte der Atem. Der Stromkasten war tapeziert mit Bilder von Kim in schwarz weiß, der komplette Fußgängerweg, Fahrradweg und die Einfahrt zum Autohaus waren übersät von Kerzen, Kuscheltieren und Briefen. Ich war seit dem Tag nicht mehr hier und es raubte mir alles. Ich fing am ganzen Körper an zu zittern, eine riesige Lawine kündigte sich in meinen Körper an, brodelte in mir und brach urplötzlich aus. Die Tränen rannten an meinen Wangen hinunter, sie brannten, da sie so viel Schmerz beinhalteten, mein Körper zog sich so fest zusammen, dass ich nur noch schreien konnte. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, an den innerlichen Schmerz zu sterben. Es zerriss mich. Ich merkte nur noch Hände an meinen Schultern, die mich an meinen Körper zogen und ich weinte und schrie um mein Leben. Alles um mich herum vernebelte sich und ich kam erst wieder zu mir, als ich in der Kirche, auf einer Bank direkt hinter Merle und ihrer Mutter saß. Ich konnte ihre Gesichter nicht sehen, aber ihre Körperhaltung sprachen für sich. Die Köpfe waren gesenkt und ihre Blicke starr geradeaus. Ich folgte ihren Blick und erstarrte kurz. Vor mir war ein riesiger, wunderschöner, weißer Sarg. Auf ihn und um ihn herum standen unendlich viele Kränze mit Schleifen, die von Worten voller Trauer, Schmerz und Liebe geziert wurden. Ich erkannte auch unseren Kranz, mit unseren Namen. Es sah wunderschön aus, aber gleichzeitig bescherte dieser Anblick mir eine grauenvolle Gänsehaut auf meinem Körper. Links von dem Ganzen war ein riesiges Bild von Kim, ein Portrait, sie strahlte so sehr auf diesem Bild, ihr Nasenpiercing glänzte und zeichnete die rebellische, freche Seite in ihr aus und überall standen Kerzen, die wärme schenken sollten.
Oh Gott, wie sie mir fehlte!!!
Mein Blick schweifte umher, viele Gesichter die ich kannte, viele die schon einmal oder öfters gesehen hatte, mein Kopf steuerte Richtung Ausgang und mit einen Mal riss ich meine Augen auf. Es waren so viele Leute gekommen, dass sie in mehreren Reihen hinten standen, sie hatten die Kirchentüren geöffnet, weil es keinen Platz mehr gab für die vielen Leute, die gekommen waren. Es war überwältigend. Ich wurde aber schnell wieder zur Besinnung geholt, als meine Augen auf Kims Oma trafen. Ihre Hände krallte sich an ihre Handtasche fest und den Blick fest auf ihre Füße ging sie den langen Gang an den Bänken hinauf Richtung Sarg. Meine Augen folgten ihr ohne einmal mit der Wimper zu zucken, sie kniete sich hin, betete für ihre verlorene Enkelin, stand mit Tränen in den Augen auf, ging zu ihren Bild, streichelte Kim über die Wange und fing herzzerreißend an zu weinen. Dieser Anblick, der Schmerz, ihre Verzweiflung versetzte mir einen so tiefen Stich in meinem Herzen, dass ich nicht anders konnte, als mit zu weinen. In diesen Moment konnte ich so sehr mit ihr fühlen, ich wusste genau was sie dachte und fühlte. Das war der Moment der alles in mir aufbrach, all der Schmerz, die Bilder, die Wut, die Verzweiflung, die Angst, die Trauer überkamen mich und ich brach in Tränen zusammen. Von allen Seiten spürte ich Hände, Arme und Körper die mich drückten und versuchten mir Kraft zu schenken, mich zu halten, aber es brachte nichts. Niemand konnte mir diesen Schmerz nehmen.
Ich bekam nicht viel von den Worten des Priesters mit, ihre Mutter, ihre Lehrer, der Direktor und einige andere hielten ihre letzten Worte an Kim, doch ich war irgendwie nicht da. Ich hatte alles um mich herum verloren und vor allem hatte ich mich verloren. Ich weinte ununterbrochen und versuchte nicht zu schreien, weil der Schmerz mich so übernahm. Nach der Rede wurde sie raus getragen. Mein Opa, Nachbarn und einige Familienmitglieder waren die Sargträger, die Kim auf ihren letzten Weg begleiteten, ich war einer der letzten, die es nach Draußen schafften, weil ich einfach wie erstarrt war. Draußen angekommen war ich abermals erschrocken, wie viele Leute hier waren und nicht nur das. Es waren auch mehrere Krankenwagen anwesend. Es waren wohl einige zusammengebrochen. Mein Blick schweifte zu den Menschenandrang vor ihren Grab, ich konnte mich jedoch nicht bewegen, ich konnte mich nicht überwinden dort hinzugehen. Ich wollte mich nicht von ihr verabschieden, ich wollte sie einfach zurück haben, bei mir haben und sie so fest in meinem Armen halten, dass sie nie wieder gehen könnte. Irgendwann hatte ich mich doch irgendwie überwinden können und machte mich schweren Schrittens auf dem Weg zu ihren Grab. Es waren so viele Blumen und Kränze dort, dass sie 3 Gräber in Beschlag nahmen. Das Grab war offen, daneben stand ihre Mutter mit Merle, ihren Großeltern und der Rest der Familie. Alle warfen ihre Blume zu Kim ins Grab, begleitet von ein wenig Erde und letzten Worten, dann wanden sie sich zu Kims Familie und sprachen ihr Beileid aus. Ich stand nur stumm da und starrte auf dieses große Loch. Als der Menschenandrang sich auflöste schaffte ich es mich zu bewegen und lies mit Tränen in den Augen meine Rosen ins Grab fallen. Als Kerstin mich bemerkte und ich ihr mit meinen tränenden Augen, in ihre trauernden Augen schaute, zog sie mich in eine feste Umarmung. Es waren keine Worte nötig und ich wollte ihr auch nicht mein Beileid ausdrücken, denn es wäre mir falsch vorgekommen. Keine Worte auf dieser Welt können jemanden trösten, der solch einen Verlust erleben muss.
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Der Weg in mein Leben
General FictionDas hier wird kein Buch, es wird eine Lebensgeschichte. Ich weiß nicht genau, wo es hinführen wird, denn wie im wahren Leben, weiß man das vorher auch nicht. Das hier wird meine erste Geschichte. Ich lese unheimlich gerne und bezweifel, dass ich so...