Verlorene Seele - Kapitel 21

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Ich fühlte mich so elend. Die Tage vergingen und die Welt drehte sich einfach weiter.


Wie kann sie nur?


Aber ich lebte nicht weiter, ich war irgendwo in meinen Körper voll Schmerz gefangen und es ließ mich verzweifeln. Ich fühlte mich scheiße, schlecht und trotz dem ganzen Schmerz, fühlte ich mich leer. Ich hätte nur weinen können, alles um mich herum ist mir egal, wertlos geworden. Es macht für mich nichts mehr sinn.


Warum raubt man einen Menschen die Zukunft, das Leben und anderen damit die Freude?Warum, warum verdammt nochmal?


Immer wieder fragte ich nach dem Warum, bekam aber keine Antwort darauf. Es fraß mich innerlich nur noch mehr auf.


In einigen Tagen sollte ich das erste Mal nach dem Unfall wieder zur Schule. Ich konnte mir das absolut nicht vorstellen.


Wie soll ich zur Schule gehen, mein Leben weiterleben, als wäre nichts gewesen, dabei ist nichts mehr so wie es einmal war!


Die meiste Zeit verbrachte ich in meinem Zimmer, hörte Musik, weinte oder war drüben bei Merle und ihrer Mutter.


Kerstin hatte mich vor einigen Tagen rüber gebeten, um ihr zu helfen einige Sachen von Kim zu sortieren. Es war der Horror und das Wunderbarste zugleich. Es brach mir das Herz und ich fragte mich, wie sie es schaffte die Sachen einfach auszusortieren. Sie erzählte mir, dass sie es nicht verkraftete all die Sachen hier zu sehen und unberührt zu lassen. Sie musste die Betten beziehen, ihre Sachen waschen. Ich entgegen hätte mich am liebsten in ihr Bett gelegt, mich in ihre Bettwäsche gekuschelt und ihren Geruch so tief in mir eingezogen, dass ich ihn angenommen hätte, statt ihn zu verscheuchen. Ich habe großen Respekt vor Kerstin. Sie hat sich seit Kims tot enorm verändert, sie ist viel herzlicher geworden, menschlicher. Verstehen konnte ich sie trotzdem nicht. Auf Kim ihr Bett lagen ihre Tasche vom Unfall, frisch gewaschen und die Kleidung die sie trug und wieder einmal schossen mir die Bilder von dem Unfall in den Kopf. So sehr es mich auch mitnahm, so sehr genoss ich es aus. Ihr Geruch, ihre Sachen, ihre Kleidung, es war, als wäre sie nie weggewesen, als wäre sie so nah bei mir. Einige ihre Sachen schenkte sie mir und ich war ihr so dankbar. Das war genau das was ich brauchte, etwas von Kim an und bei mir. Ich musste sie an mir spüren.


Jeden Tag bin ich bei Kim am Grab. Ich bringe ihr jeden Tag etwas mit, dass ihr Grab verschönert und uns verbindet. Bilder, Gedichte, Schmuck. Ich sitze dort und rede Stunden mit ihr, weine mit ihr und erzähle ihr, wie sehr ich sie vermisse und mir wünsche, dass sie einfach wieder kommen könnte. Ihr Grab ist wunderschön geworden. Sie hat zwei Grabplätze nur für sich. Auf dem Einen ist ihr tatsächliches Grab. Ihr Grabstein ist ein riesiges Herz aus Marmor, dort ist ihr Geburtstag, der Todestag und ihr Vorname in Gold zu lesen. Ihr Vorname wurde jedoch nicht einfach so eingraviert, wie der Rest, nein. Sie hat ihn quasi selber geschrieben. Ihre Mutter hat ein Zettel von ihr genommen, wo Kim damals ihren Namen drauf geschrieben hatte und hat ihn in original auf dem Grabstein setzen lassen. Rechts von ihren Namen ist ein kleines Foto, in einen ovalen Rahmen und links von ihren Namen ist ein Pferd zu sehen. Ihr Grab ist umrandet von einer Marmorkannte und in dem Grab sind vier  geschwungene Marmorplatten. Auf der Kleinsten, die direkt neben ihren Grabstein ist, steht eine Laterne mit roten Gläsern, dort brennt immer ein Licht für Kim. Auf den Anderen ist ein Spruch geschrieben: „Wenn du einen Stern am Himmel siehst, dann lächle, denn dieser Stern bin ich." und um den Spruch herum stehen Vasen mit Blumen drinnen. Um den Platten herum ist Blumenerde und in ihnen sind versetzt voneinander kleine, verschieden Blumen gepflanzt. Das Grab sieht unheimlich gepflegt aus und spiegelt die Liebe wieder, die in ihr investiert wird. Die Grabstelle links von ihr, gehört zusätzlich zu ihr. Dort findet man eine kleine Marmorbank, auf die man sich setzen kann, um Kim Gesellschaft zu leisten. Neben ihr steht eine kleine Vogeltränke aus Marmor, wo auch ein kleiner Marmor-Vogel sitzt und aus ihr trinkt. Das soll die Vögel anlocken, damit Kim sich niemals alleine fühlt. Ich habe nie zuvor so ein wundervolles Grab gesehen und inzwischen habe ich viele gesehen, da ich viel Zeit auf dem Friedhof verbringe.Ich gieße die Blumen und bringe die Verwelkten weg. Dafür muss man über den kompletten Friedhof laufen, da da das frische Wasser ist und der Komposthaufen. Wenn ich dort bin, besuche ich auch das Grab meiner Uroma, obwohl ich sie nie kennen lernen durfte, da sie gestorben ist, bevor ich geboren wurde, fühle ich mich verpflichtet und will ihr somit meinen Respekt erweisen. Kurz nach Kims tot, hat sich Merles Papa umgebracht, keiner weiß warum oder wieso, er hat keinen Brief hinterlassen, hat sich eines Nachts einfach die Brücke herunter gestürzt. Sein Grab liegt auch hier, ihn besuche ich auch auf meinen Rundgang und die letzte Station ist Botzi, bevor ich wieder zu Kim gehe. Es mag verrückt klingen, aber dies ist der einzige Ort an dem ich einmal atmen kann und die Augen schließen kann, ohne durchzudrehen. Bei Kim fühle ich mich sicher und nicht mehr so alleine, vor allem vermisse ich sie nicht mehr so doll.


Gestern war Kims Vater zum ersten Mal da, er holte ihr Fahrrad ab. Zum ersten Mal hatte ich ihn gesehen, ich stand am Fenster und habe alles genau beobachtet. Immer wieder habe ich mich gefragt, wo er war, als Kim noch lebte. Nie hatte ich von ihm gehört oder ihn gesehen. Kim hat auch nie von ihm gesprochen. Ich weiß aber von Oma, dass er ihr komplettes Grab gestaltet hat. Er arbeitet nämlich mit Fliesen,Marmor und so. Schade, dass erst ein Mensch sterben muss, um in Erinnerung zu kommen. Kim hätte ihn mehr gebraucht, als sie noch lebte.


Oft vermisse ich sie so sehr, dass ich mir einbilde sie zu sehen oder zuhören. Manchmal, wenn ich aus dem Fenster schaue, bilde ich mir ein, ihre Glocken an den Hosen zu hören, die ankündigen, dass sie jeden Moment um die Ecke kommen müsste, aber das tut sie nicht. Jedes mal schlucke ich bitter den Klos in mir herunter. Manchmal, wenn ich auf dem Weg zu ihren Grab bin und durch die Stadt gehe, dann schellt mein Blick ruckartig nach oben, weil ich mir einbilde sie im Augenwinkel gesehen zu haben. Jedes Mal breitet sich die Enttäuschung aus, als ich feststellen muss, dass ich es mir nur eingebildet habe. Als würde das nicht reichen und mich schon an meinen Verstand zweifeln lassen, träume ich zusätzlich noch jede Nacht von ihr. Einige sind schön und lassen mich Erinnerungen und Erlebtes mit ihr erneut durchleben, andere quälen mich. Das sind die Schlimmsten. Ich kann nicht mit ihr reden, weil ich meinen Mund nicht öffnen kann, kann sie nicht erreichen, halte sie tot in meinen Händen und die Schlimmsten sind, in denen wir uns streiten. Sie macht mir Vorwürfe, fragt warum ich nicht gestorben bin und warum ich sie alleine gelassen habe. Die nehmen mich so sehr mit, dass ich mehrmals wach wurde, unter Tränen, geschrien habe und mich sogar einmal übergeben musste.


Die schlaflosen Nächte, die Gedanken und Gefühle zerren unheimlich an meinem Nerven. Ich habe mich andauernd in den Haaren mit Chris und Oma. Ich kann es nicht erklären, aber ich ertrage sie einfach nicht. Ich ertrage die Nähe nicht, mich nerven ihre Worte, ihre Gesten, einfach alles. Eigentlich müsste ich ein schlechtes Gewissen haben, aber das habe ich nicht. Mir ist es egal. Es ist einfach nichts mehr wie es war, das müssen sie verstehen und nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Opa sehe ich meistens nur zum Essen, da er immer erst spät von der Arbeit kommt, damit kommt er nicht in den Genuss meiner Launen.



Und wenn ich an Montag denke, wieder in die Schule zu müssen, könnte ich gewaltig kotzen. Ich habe keine Lust auf die Blicke, auf die Fragen, auf das Gerede und am aller wenigsten habe ich Lust auf deren Mitleid!

Der Weg in mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt