133 Tage vorher

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"June, jetzt beeil dich doch mal, die Gäste warten!", schrie mich mein Chef an. Ich schnappte mir daraufhin das Tablett und schlängelte mich durch die, meiner Meinung nach, zu dicht stehenden Tische in dem Café, in welchem ich arbeitete. Es war immer gut besucht und deshalb musste ich viel hin und her laufen, vor allem wenn meine Kollegin mal wieder einen Drogenabsturz hatte und nicht zur Arbeit aufkreuzte.

Es gab kaum Zeit einmal an der Theke stehen zubleiben, mit Dan, meinem Kollegen und besten Freund, über die ganzen Möchtegern Hipster zu lästern oder am Handy auf die ganzen sinnlosen Nachrichten zu antworten, die man von irgendwelchen Gruppen auf Whatsapp bekam. Nein, man wurde ständig angetrieben weiter zu arbeiten und die Kundschaft immer nett anzulächeln. Fehlt nur noch die Peitsche und ich fühlte mich exakt wie ein ägyptischer Sklave beim Bau der größten Pyramide überhaupt.

Doch was meinen Tag, abgesehen von den Arbeitsbedingungen, so schlecht machte, war die seltsame Begegnung von letzter Nacht. Komischerweise ging mir Liam nicht aus dem Kopf. Ich musste ständig an ihn denken und wenn ich eine Lederjacke oder eine rote Snapback sah, kam in mir dieses Gefühl hoch. Hoffnung. Ich hoffte darauf, dass er zufällig hier rum saß und wir uns lächelnd wunderten uns wiederzusehen.

Doch das war alles andere als typisch für mich. Ich hatte zwar die eine oder andere Erfahrung mit Jungs, vielleicht auch mehr als das, aber es kam bei mir nie zu einer richtigen Beziehung oder Ähnlichem. Dementsprechend waren solche 'Gefühle' absolut fremd für mich.

Ich machte mir selten Hoffnungen auf irgendetwas, einfach weil ich es hasste, enttäuscht zu werden. Ich konnte mir nicht erklären wieso ich so fühlte, oder wieso ich überhaupt einem Jungen gegenüber auch nur irgendetwas fühlte. Und das beunruhigte mich extrem. Ich versuchte mir immer wieder einzureden, dass ich nur so fühlte, weil ich ihm irgendwie ernsthaft geholfen hatte und ein Mensch mir zum ersten Mal dankbar war oder sowas. Aber im Endeffekt wusste ich, dass es nicht der Wahrheit entsprach.

Ich zählte sozusagen schon die Minuten, die Sekunden, bis ich dann Feierabend hatte und meine Schürze endlich ablegen konnte. Mein Weg führte mich, wie sonst eigentlich auch immer, zuerst in meine bescheidene Zwei-Zimmer-Wohnung, wo ich mich erst mal duschte, mich erneut fertig machte und noch eine Kleinigkeit aß.

Obwohl ich eigentlich genau das nicht machen wollte, ging ich unbewusst zu meinem Lieblingsplatz zurück. Zu dem Platz, an dem ich Liam getroffen hatte. Doch ganz anders als erwartet, war die ganze Brücke menschenleer. Wie sonst auch. Ich schlug mir gegen den Kopf. Wie konnte ich nur so dumm sein und wirklich glauben, er denkt genauso wie ich.

Nie hatte ich mich auch nur ein klein bisschen um Jungs geschert und dann kam da so ein jammernder, saufender Typ daher, der meinen Lieblingsplatz blockiert und verdreht mir vollkommen den Kopf. Dabei kannte ich ihn gerade mal 10 Minuten, wenn überhaupt. Das konnte echt nicht wahr sein! Was war bloß los mit mir?

Ich blieb noch eine Weile auf der Brücke stehen und redete mir ein, ich würde die kühle Abendluft und die Einsamkeit genießen, aber eigentlich wartete ich doch nur auf Gesellschaft. Von jemand ganz bestimmten. Liam. Ich schüttelte meinen Kopf um diese Gedanken endlich loszuwerden und machte mich auf den Weg nach Hause. Hier weiter rumzustehen und eine Erkältung zu riskieren, war es einfach nicht wert. Besser gesagt, war er es nicht wert.

Als ich schon fast das große Haus sah, in welchem sich meine Wohnung befand, zog etwas auf der gegenüberliegenden Straßenseite meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich drehte mich um und schaute einer Person hinterher, die gerade in eine Seitenstraße gegangen war. Geschockt blieb ich stehen und starrte noch immer auf die Stelle, an der ein Typ mit roter Snapback verschwunden war. War das Liam? Hatte er mich gesehen und vielleicht extra gemieden?

Meine Gedanken überschlugen sich. Doch bevor ich mir darüber den Kopf zerbrach ging ich schnell weiter und zählte dabei meine Schritte. Das war schon immer eine gute Methode für mich gewesen, um mich von anderen Dingen, vor allem von meinen Gedanken, abzulenken. Ich konnte und wollte mich nicht die ganze Zeit fragen, ob er mich absichtlich ignoriert hatte. Vor allem nicht, wenn ich nicht genau wusste, ob es Liam überhaupt gewesen war.

Ich betrat meine Wohnung, schmiss alle meine Sachen auf das kleine Sofa, welches in der Mitte des Raumes stand, und legte mich dann direkt ins Bett. Schlaf war immer noch die beste Möglichkeit Dinge zu verdrängen. In diesem Moment war es mir egal, dass ich noch alle meine Klamotten an hatte. Ich wollte nur noch schlafen und nicht mehr über Liam, oder sonst wen, nachdenken.

Fuck!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt