Kapitel 5

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“Spinnst du Henry?“, zischt Alice. Er lächelt und plötzlich kommt er mir vor wie ein Psychopath.
“Nein, tue ich nicht, aber du offensichtlich. Du holst sie hier her? Hast du auch nur eine Sekunde an Andrew gedacht?“
“Ach komm, tu nicht so!“ Alice bebt vor Wut. “Hier geht es nicht um Andrew! Du hasst sie abgrundtief!“
Alle hassen sie abgrundtief, weil das was sie getan hat...“
“Das war aber nicht Mary!“
“Woher willst du das wissen?“, brüllt Henry. “Sie kann lügen und Schauspielern und morgen sind wir alle tot!“ Ich zucke zusammen. Er richtet seinen Blick auf mich.
“Das ist nur die Wahrheit. Ich glaube kein Wort deiner Geschichte. Aber du hast uns gesucht was-willst du von uns?“ Ich hole tief Luft. Das Lügennetz in das ich mich eingesponnen habe, ist sehr dünn. Und durch Henrys Blick gerate ich durcheinander, wenn ich jetzt etwas falsches sage, fliegt alles auf und ich schließe nicht aus, dass ich dann nicht mehr lange atmen werde.
“Ich hatte zu Hause nichts mehr, Joleen hat mir alles genommen...“
“Oh du Arme“, ruft Henry mit gespielt trauriger Stimme dazwischen.
“Sei doch mal ruhig!“ Vincent starrt ihn wütend an und die Brüder liefern sich ein kurzes Blickduell bis ich weiter erzähle.
“Ich musste von zu Hause weg, ihre Bedrohung war immer da.“ Irgendwie stimmt das ja auch. “ Und sie hat euch mal erwähnt, in einem...Ich weiß nicht laut ausgesprochenen Gedanken. Ich dachte nur, dass ich vielleicht hier neu anfangen könnte. Ich wusste aber nicht, dass sie hier so viel angerichtet hat.“
“So, du willst mir also erklären, dass sie einmal unsere Familie erwähnt hat und die gleich gedacht hast: Da muss ich hin?“, frozelt Henry weiter.
“Ich hatte nichts mehr! Nur diese Chance und wenn's daneben gegangen wäre dann hätte das auch nichts an meiner Situation geändert.“
“Woher wusstest du, dass wir nicht auf Joleens Seite stehen und potenziell deine Feinde sind?“ Die erste Frage von Vincent, sein Tonfall ist ruhig und angenehm. Das wiederum beruhigt mich.
“Sie hat nicht so von euch gesprochen als wärt ihr sehr gute Freunde gewesen.“
“Ha! Und da passt deine Geschichte nicht mit unserer überein!“ Henrys triumphierender Gesichtsasudruck bereitet mir Übelkeit.
“Wir haben hier nie was getan, sie kann also gar nicht schlecht von uns reden. Sie hat uns zerstört, das heißt theoretisch könnte sie nur prahlen. Und bevor das alles passiert ist, waren wir Freunde.“ Stille. Ich straffe die Schultern.
“Davon weiß ich nichts. Nur weil ich aussehe wie sie heißt das nicht, dass wir Gedanken teilen. Ich kenne sie absolut nicht und habe keine Ahnung was sie wo getan hat. Ich weiß nur wie sie von euch gesprochen hat. Nicht positiv.“ Zieht sich die Schlinge um meinen Hals zusammen? Vincent scheint zu überlegen.
“Wäre es so abwegig anzunehmen, dass sie Angst hat?“
“Was?!“ Henry schlägt mit der Faust aufs Sofa. “Angst? Dieses Miststück? Wovor?“
“Vor einer Rache. Wir könnten uns jederzeit rächen für das was sie uns angetan hat.“
“So ein Quatsch. Hätte sie davor Angst, hätte sie längst was gegen uns unternommenen.“ Alice schweigt kurz. Dann sieht sie auf.
“Wir können nicht in ihren Kopf sehen, niemand weiß was sie denkt. Aber wenn Mary auf der Flucht ist, müssen wir ihr helfen. Das sind wir jedem Opfer von Joleen schuldig.“
“Nicht wenn das Opfer aussieht wie sie!“ Henry verschränkt die Arme vor der Brust und funkelt mich an.
“Ich sehe das so wie Alice“ erklärt Vincent und lächelt mich an. Ich lächele zögernd zurück.
“Damit steht es zwei zu zwei.“
“Wieso das?“ Alice sieht verwundert zu Henry. “Eher zwei zu eins oder?“
“Nein, Andrew hat auch eine Stimme und ich glaube er hat vorhin deutlich gemacht wie er zu ihr steht.“ Er zeigt mit dem Finger auf mich und am liebsten würde ich ihm die Zunge rausstrecken, genau wie im Kindergarten. Alice sieht ein bisschen hilflos aus. Plötzlich steht Andrew neben uns, ebenfalls mit verschränkten Armen. Mit fällt auf, wie ähnlich sich Henry und Andrew sehen, auch Vincent Gesichtszüge stimmen absolut überein. Krass.
“Ich hasse dich.“ Die Worte durchbrechen die Stille und sind unverkennbar an mich gerichtet. Ich knirsche mit den Zähnen und bin kurz davor ein: Ich dich auch, zurück zu schleudern, aber ich kann mich beherrschen.
“Und weil ich dich hasse, darfst du bleiben.“ Noch nie in meinem Leben habe ich einen sinnloseren Satz gehört. Blinzelnd sieht Alice ihren Bruder an.
“Was?“
“Ja. Was bringt es denn sie wegzuschicken? Dann wird sie woanders...alles zerstören. Hier kann ich wenigstens...sie wenigstens endlich fühlen lassen, was ich damals gefühlt habe.“ Mit einem Mal sieht Henry sehr geschockt aus und er kommt mir bei Weitem wie das Kleinere Übel vor.
“Aber alles zu seiner Zeit.“ Dann geht Andrew und die Wohnungstür fällt hinter ihm ins Schloss. Ich fühle mich ein bisschen sicherer. Alice legt mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
“Keine Sorge, das wird nicht passieren. Ich rede noch mal mit ihm. Du kannst in der Zeit in das Zimmer dort ziehen.“ Sie deutet auf eine Tür und verlässt mich dann ebenfalls. Nun bin ich mit Henry und Vincent allein. Vor letzterem habe ich keine Angst und selbst Henry wirkt nach der Ansage seines Bruders wie ein Kuscheltier. Ein böse grinsenden  allerdings.
“Tja sieht so als würdest du es hier nicht leicht haben. Vielleicht überlegst du es dir lieber doch anders, bevor es zu spät ist.“

Die Doppelgängerin (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt