Schwerfälliges Atmen und das leise Wimmern der Mutter erfüllt den stickigen Raum. Sie hält dem kleinen, geschundenen Mädchen die Hand. Bittet sie, bei ihr zu bleiben. In ihrem Inneren weiß sie natürlich, dass sie es nicht kann. Aber sie betet trotzdem weiter. Das blasse Gesicht ist ausdruckslos und der leere Blick des in Leintücher gewickelten Mädchens verliert sich in der Leere. Ihre Brust bewegt sich nur noch kaum merklich. Eine heiße Träne fällt auf des Mädchens Wange und zerbricht geräuschlos, um danach das Gesicht hinunterzufließen und unter den Tüchern zu verschwinden. Warum sie...?, denkt die Mutter. Warum mein Mädchen, mein Kind... Wie soll ich es ihrer Schwester erklären?... Ein stechender Schmerz, gefolgt von einem Anfall von Schluchzen, lässt die Mutter in sich zusammenfallen.
Das Mädchen klammert sich an den Gedanken einzuatmen, auszuatmen. Versucht verzweifelt, der Versuchung nicht nachzugeben, zum Licht zu fliegen. Den Schmerz hinter sich zu lassen und zum Schein zu gehen. Die, die sie geliebt und verloren hatte, rufen das Mädchen. Sie flattern wie Vögel um sie herum, tanzen, singen, laden sie ein. Nehmen ihre schwachen Hände in ihre weichen, leichten Arme. Aber sie gibt noch nicht nach. Sie will noch weiterleben. Bei ihrer Mutter und ihrer restlichen Familie bleiben. Aber es ist so schwer... Still sagt sie Lebewohl und gibt endlich nach. Sinkt ins Vergessen, ins Wasser. Und all der Schmerz, die Qualen, die Schwere sind weg. Sie ist leichter als eine Wolke, kann hinauffliegen, zwischen den Schaumkronen tanzen. Das Wasser streichelt ihre nackten Füße, die Schaumblasen zerplatzen beim Kontakt mit ihren plötzlich sauberen Fingern. Erst jetzt bemerkt sie, dass ihr Schweiß, Wunden und der Schmutz weg sind. Das krankhafte Husten quält ihre Kehle auch nicht mehr. Schon hat sie ihr früheres Leben vergessen, nur das Hier und Jetzt zählt noch. Es überlagert alle Erinnerungen und Gedanken, es gibt nichts mehr außer das sanft-blaue Wasser, die Mähnen der Schaumkronen und den unendlichen Horizont. Doch langsam schwindet die Kraft und das Mädchen beginnt wieder schwerer zu werden. Nun ist das Mädchen schon bis zum Bauchnabel im Wasser. Panik übermannt sie, sie versucht, gegen das Blau anzukommen. Doch nun gibt sie endlich den Kampf mit der Schwere nach und lässt sich unter Wasser ziehen. Dann sieht sie die verschwommenen Umrisse eines schwarzen Tunnels und will wieder nach oben. Doch sie kann ihre Gliedmaßen nicht bewegen, sie sind zu schwer, so, als würde flüssiges Blei statt Blut durch ihre Adern fließen. Verzweifelt versucht sie, jemanden zu Hilfe zu rufen, aber das Wasser hat sie zum Schweigen gebracht, es füllt ihren Mund, die Nase, die Lunge. Nun sinkt sie bis zum Tunnelanfang, als ihr klar wird, was das für ein Tunnel es ist. Es ist der, durch den man hindurchgehen muss, nachdem man tot ist. Die bösen Taten, die man gemacht hat und andere deswegen leiden mussten, durchlebt man aus der Sicht der Leidenden. Das Mädchen durchforstet alarmiert ihr Gewissen und taucht in das Schwarz ein...
Die Mutter spürt, dass dies ihr letzte Atemzug sein wird. Auf einmal, im letzten Augenblick ihres Lebens, findet der Blick des Mädchens plötzlich einen Anhaltspunkt – und wird glasig. Sie ist gegangen. Sie ist weg. Weg... Für immer. Sie kommt nicht mehr zurück. Aber diese Gedanken sind so unwirklich, so falsch, dass die Mutter es immer noch nicht fassen kann. So, als würde sie gleich wieder einatmen und lachen, fragen, ob sich die Mutter erschreckt hat. Aber erst nach einiger Zeit realisiert sie, dass sie unerreichbar geworden ist. Sanft drückt sie dem Mädchen die Augen zu. Jetzt sieht es so aus, als würde sie schlafen, nur ohne das Detail, dass sich die Brust gleichmäßig hebt und senkt. Versiegelt mit den Tränen sind ihre Augen jedoch für alle Zeit geschlossen. Gefühlslos steht die Mutter auf und wendet ihren Blick ab. Sie weiß nicht, wie sie in die verweinten und mit Hoffnung auf ein Wunder gefüllten, meergrünen Augen ihrer kleineren Tochter, in die besorgten und von Schmerz benebelten ihres Mannes schauen und ihnen sagen soll, dass sie fort ist. Die Mutter kann nicht anders, sie schaut noch einmal auf den Körper, der einmal ihre Tochter war. Tot, ohne Farbe im Gesicht, sieht sie nicht mehr aus wie das Mädchen, dass sie einmal war. Es klopft an der Tür. Die Mutter sinkt nun wieder zusammen und starrt auf die Leintücher. Ein Arm wird um ihre Schulter gelegt, tapsige, kleine Schritte sind von hinten zu hören und verstummen abrupt. Und dann kommt die Frage, auf die die Antwort so schmerzhaft wie Feuer auf dem rohen Fleisch ist: Ist sie eingeschlafen, Mami? Die Mutter spürt, wie ihr Mann nickt und sieht eine weitere Träne, die auf den staubigen Fußboden platscht und einen kleinen, dunklen Fleck bildet. Der Schmerz ist so dumpf, sodass er allen Gefühlen die Spitze nimmt und die Wahrnehmung benebelt. Müde macht die Mutter die Augen zu und überlässt sich der Vergessenheit.
Endlich ist der Tunnel zu Ende. Das Mädchen atmet tief durch. Endlich sieht sie wieder das lockende Licht. Sie will dorthin. Sie ist endlich angekommen und genießt für diesen einen Moment die Wärme und das Funkeln, das sie umgibt. Dann verschwindet es wie auf einen Schlag. Aber warum? Ungewollt schließt das Mädchen ihre Augenlider. Als sie sie wieder aufmachen kann, liegt sie auf dem Bett, ihre Familie sitzt zusammengekauert auf dem Boden und weint. Sie setzt sich auf, sagt, dass sie wieder gesund ist, dass sie aufhören sollen, zu weinen. Aber keiner reagiert auf ihre Worte. Das Mädchen steht auf und streckt die Hand nach ihrer Mutter aus, als sie sieht, dass sie ihren Arm nicht erkennen kann. Ach, doch, hier sind die blasses Umrissen von den Fingern, vom weißen Kleid. Sie tippt ihrer Mutter auf die Schulter, aber sie schaut nicht auf. Auf einmal spürt sie einen Blick auf ihrer Haut; ihre kleine Schwester bewegt sich zu ihr. Angetrieben von neuer Hoffnung breitet sie die Arme aus und wartet darauf, dass ihre kleine Schwester freudig in sie hineinspringt und sich an sie kuschelt, so wie früher. Aber warum schaut sie dem Mädchen nicht in die Augen? Das Kind geht so nah an das Mädchen, dass sie ihren Atem spüren kann – und sie geht durch sie hindurch. Der kleiner Schwester scheint das nichts auszumachen, aber das Mädchen wird zur Seite geschubst und landet mit ihrem Kopf am Schrank. Sie wartet auf den Schmerz und das Klappern des Geschirrs, das im Schrank steht. Nicht geschieht. Ihre Schwester geht zum Bett. Das Mädchen steht auf und schaut auf das Bett. Da ist eine Abbildung ihrer Selbst, nur aus Fleisch und Blut. Ungläubig starrt sie auf die blasse Puppe, bis sie begreift, dass das ihr Körper ist. War. Ihre Schwester rüttelt an der Leiche und sagt und bettelt, dass sie aufwachen soll. Dann fängt sie an, erschöpft zu wimmern, da sie nun verstanden hat, dass ihre große Schwester nicht mehr da ist. Sie ist fortgegangen, hat ihren zu schwer gewordenen Körper wie eine leere Hülle zurückgelassen. Jetzt bereut sie es so sehr, dass sie sich auf das Licht eingelassen hat, ohne über die Folgen nachgedacht zu haben. Ohne sich vorgestellt zu haben, wie ihre Familie ohne sie auskommen wird.
Ihre Zeit auf dieser Welt ist um, das spürt das Mädchen jetzt. Sie wirft noch einen letzten Blick auf dieses Zimmer; ihre kleine, süße Schwester; ihren selbstsicheren und mutigen Vater; ihre Mutter mit ihren ausgeklügelten Ideen und Heilkräften, die bei ihr aber nicht gereicht haben. Dann lösen sich die Bindungen der Teilchen, aus denen sie nun besteht. Es tut nicht weh, sie sieht alles nur sehr verschwommen und ihr ist ein bisschen schwindelig.
Als sie wieder sehen kann, befindet sie sich in einem sehr schönem, sauberen, weißen Raum. Und da sitzt ihre Patin, die an der selben tödlichen Krankheit gestorben ist, und wartet auf sie...
Ein Jahr später...
Das Mädchen besuchte alle aus ihrer Familie, so oft es nur ging, in deren Träumen. Doch jetzt ist sie fest dazu entschlossen, einen sehr hohen Preis für ein Wunder zu zahlen. Ihre Patin hat gesagt, dass sie wieder auf die Erde darf, wenn ihre Zeit gekommen ist. Aber sie kann nicht länger warten. Deswegen ist sie bereit, ein großes Risiko einzugehen. Ihre Mutter ist wieder schwanger. Das Mädchen will diesen Körper. Aber dann wartet auch schon der Preis: Ihre Persönlichkeit, ihre Erinnerungen und Gedanken werden ausgelöscht, wenn sie mit diesem Körper verschmelzen will. Und sie hat nur ein paar Augenblicke Zeit, auf der wirklichen Welt zu sein, um den Körper anzunehmen. Wenn sie aber den Augenblick verpasst, an dem das Baby seinen ersten Atemzug macht, wird sie in dieser Welt gefangen sein – als Geist. Keiner kann sie wahrnehmen, spüren, hören, sehen.
Bist du bereit?, fragt ihre Patin leise. Sie nickt. Viel Glück..., flüstert sie noch, während das Mädchen sich wieder auflöst. Sie sieht das Kind kommen. Atmet tief ein, schließt die Augen und Verteilt ihr ganzes Sein auf diesen Körper...
Wo bin ich? Warum ist es hier so kalt? Warum ist es hier so hell? Was ist das, das mich hält...? ...
Die Mutter sieht zärtlich das in Leintücher gewickeltes Mädchen an. Sie schaut die Mutter aufmerksam an, nachdem sie aufgehört hat, zu schreien. Die braunen Fleckchen auf den grünen Strahlen in ihren Augen sehen sehr hübsch aus. Aber die Mutter kennt diesen Blick. Woher, weiß sie nicht, aber er hat etwas so Warmes, Mutiges, Tröstliches und Bekanntes, dass eine heiße Träne auf des Mädchens Wange fällt und geräuschlos zerbricht, um danach das Gesicht hinunterzufließen und unter den Tüchern zu verschwinden...
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Wo Licht ist ist auch Schatten, doch heute wird es Feuer regnen... Ich hoffe der Schatten bleibt in 2016 und dass das kommende Jahr fantastisch (oder zumindestens besser als das jetzige) wird.
Ich wünsche euch eine tolle Feier, coole Stimmung und natürlich ein
FROHES NEUES JAHR :3
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Nominierungen und andere Gehirnausgüsse
AcakIch wurde tatsächlich nominiert ^-^ Hier kommen ein paar unnütze Fakten über mich oder skurrile Antworten xD Viel Spaß :'D