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Am nächsten Morgen stand ich unschlüssig vor meinem Schrank. Mit zittrigen Händen öffnete ich die Tür.
Doch ich fand den Schrank leer vor.

Yoongi war weg. Als wäre er nie da gewesen.

Meine Tante fand es schön, dass ich mich unter den ganzen Büchern so wohl fühlte. So sorgte sie immer schnell für Nachschub, wenn ich mal wieder alle Bücher durchgelesen hatte.

Eines Abends, an dem ich nicht wirklich Lust hatte, mich in eine fremde Welt zu flüchten, tauchte Yoongi wieder auf.
Er setzte sich zu mir aufs Bett und fing an, etwas zu erzählen.

Er erzählte von seinem früheren Leben, von den Freunden, die er gehabt hatte.
Eine Geschichte folgte der anderen. Mal war es eine lustige, in der der Hofnarr Taehyung den Bewohnern in Yoongis Schloss Streiche spielte. Manchmal aber auch ernste Geschichten, wie der Tag, an dem der Bauersjunge Jungkook seinen kleinen Bruder verlor.

Yoongis Geschichten waren interessant und anders. Namen wie Seokjin, Namjoon und Jimin hatte ich noch nie gehört.
Doch sie hatten alle zu Yoongis Freunden gehört und er erzählte, dass er sie sehr vermisste.
Sie lebten in einer anderen Welt als er selbst.

Seitdem fühlte ich mich Yoongi sehr verbunden.

Eines Mittags rief Tante Dora mich zum Essen. Sie hatte mein Lieblingsessen gekocht. Tomatensuppe mit Graupen und dazu gab es das frische selbstgebackene Brot, das Tante Dora nur sehr selten machte, da sie nur wenig Zeit zum Kochen und Backen hatte.

Ich grinste an diesem Mittag vor mich hin, den dampfenden Teller Suppe vor meiner Nase. Verlockend und wohlduftend.
"Na los, probier schon, kleines. Und sag mir dann, wie du sie findest.", sagte meine Tante euphorisch und wartete ab, bis ich einen ersten Löffel probiert hatte.

Es war, als explodierten all meine Geschmacksknospen gleichzeitig. Tante Dora kochte immer gut, aber an diesem Tag schmeckte es ganz besonders.
"Gut.", sagte ich und zeigte ihr mein aufrichtigstes Lächeln.
So langsam bekam ich das hin mit den hochgezogenen Mundwinkeln und den leicht zusammen gekniffenen Augen.
"Danke."

Irgendwann gesellte sich Yoongi zu uns. Er tauchte plötzlich auf dem Stuhl neben mir auf und ich hielt krampfhaft meinen Löffel fest, um ihn vor Schreck nicht fallen zu lassen.
Tante Dora bekam von dem ganzen nichts mit. Sie löffelte in ihrer Suppe.
Ich war die einzige, die Yoongi wahrnahm.

Und darüber war ich auch sehr froh.

Yoongi betrachtete meinen Teller Suppe und mich ganz genau. Er hatte den Kopf auf eine seiner blassen Hände gestützt, die Haare fielen ihm verspielt in die Stirn.

"Das sieht wirklich sehr köstlich aus.", sagte er träumerisch und malte kreise auf den Tisch.
Ich nickte und biss in ein Stück Brot hinein.
Wie konnte es sein, dass sich Yoongi am Tag blicken ließ? Normalerweise kam er Abends aus dem Schrank gelaufen und setzte sich zu mir.

"Was würde ich dafür geben, ebenfalls einen Teller dieser Suppe kosten zu können? Ich glaube ich würde eine ganze Nacht lang auf meinen Schlaf verzichten und dir eine Geschichte nach der anderen erzählen, Phoebe. Bis sie mir ausgehen."

Meine Augen wurden groß. Das würde er wirklich tun, wenn ich ihm dafür bloß einen Teller Suppe gab?
Aber konnte ein Geist überhaupt etwas zu sich nehmen?
Zuletzt, als ich ein Kissen nach Yoongi geworfen hatte, flog es einfach durch ihn hindurch. Einen Teller Suppe zu halten, sollte sich also als schwierig herausstellen.

Yoongi tat mir leid. Am liebsten hätte ich ihm auch etwas gegeben. Um ihn glücklich zu machen, so wie er mich glücklich machte.

Yoongi verschwand wieder und ließ sich einige Zeit nicht blicken.
Zwei ganze Abende musste ich ohne seine Geschichten auskommen und versuchte mich wieder in die Bücher zu flüchten, die ich hatte.

Mir fehlte dabei aber Yoongis tiefe, melodische Stimme, mit der er die seltsamsten Namen aussprach und die schönsten Geschichten mit mir teilte.

Irgendwann legte ich mein Buch zur Seite und dachte darüber nach, wie es wäre, mit Yoongi und seinen Freunden zusammen zu sein.

In meinen Gedanken stellte ich mir vor, wie Seokjin, der Koch des Schlosses, das leckerste Essen im ganzen Bezirk für uns alle kochte. Wie der Gelehrte Namjoon mir die besten und interessantesten Bücher zeigte und mit mir über die darin enthaltenen Geschichten redete. Ich stellte mir vor, wie die einzigen beiden männlichen Tänzer des Schlosses, Hoseok und Jimin, mir ein paar ihrer Tanzschritte beibrachten.
Außerdem malte ich mir aus, mit Taehyung und Jungkook die Tiere der Bauern zu füttern und dabei Albernheiten zu machen.

Und Yoongi.
Wie er auf seinem Thron saß.
Uns alle gütig und einladend anlächelte.
Wie er strahlte auf seinem Thron.
Ich konnte seine Eleganz sehen, seine Macht. Alles war wunderschön an ihm.

Und natürlich blieb sein Blick an mir am längsten haften. Sein Blick, der mich in seiner fröhlichen und aufregenden Welt voller Liebe und Geborgenheit willkommen hieß.

Und geborgen schlief ich auch ein.

Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr allein.
Ich fühlte mich verstanden, auch wenn ich kaum mit Yoongi sprach.

An den darauffolgenden Abenden war alles wie gehabt. Yoongi war bei mir, erzählte mir seine Geschichten und ließ mich flüchten.
Er entführte mich in fremde Welten, wie es auch meine Bücher taten. Doch sie waren beinahe nicht mehr genug, Yoongi war für mich viel realer.

In mir entfachte sich ein Wunsch.
Winzig wie ein Sandkörnchen, funkensprühend wie ein Feuerwerk. Nur viel viel kleiner.
Er war wie ein kleiner Funken, doch er war da.
Der Wunsch mit Yoongi in seine Welt zu verschwinden stieg immer weiter an.

Auch wenn ich wusste, dass dieser unmöglich war.

Auch wenn ich wusste, dass mein Leben nicht so sein konnte, wie das von einer der Protagonistinnen in meinen Büchern.
Nie würde ich gerettet werden. Nie würde ich ein anderes Leben bekommen.

Nie würde ich vergessen können, was mal war.

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Mo 02. Januar 2017
05:09 a.m.

Wardrobe Ghost || min yoongiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt