Kapitel 4 - Der andere Wolf

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Anschließend machte ich mich wieder auf den Weg zu mir nach Hause. Ich veränderte mich, und auch wenn es mir Angst machte, es gefiel mir irgendwie. Als ich an einem kleinen Wäldchen vorbei kam blieb ich stehen. Dieser Wolf hatte mich gebissen - ein Werwolf hatte mich gebissen - und wer sagte, dass ich der einzige war? Ich musste ihn finden. War das wirklich so eine gute Idee? Hatte er mich verwandeln oder töten wollen? Alle anderen hatte er bis jetzt offensichtlich getötet. Also hatte ich nur Glück? Wenn ich so zurück dachte konnte es unmöglich Glück gewesen sein. Ich war ihm schutzlos ausgeliefert und er hätte alles mit mir tun können was er wollte. Also warum hatte er nicht? Ich seufzte; ich würde ihn wohl finden und fragen müssen.

Anstatt weiter nach Hause zu laufen machte ich mich auf den Weg zum Waldfriedhof. Ich wusste nicht woher, aber meine Füße fanden den Weg und ich wusste, dass er da sein würde. Was würde er wohl tun? Einfach mit mir reden? Oder mich erneut versuchen umzubringen. Leicht würde ich ihm letzteres nicht machen, immerhin war ich nun auch ein Wolf. Es dauerte nicht lange und ich stand kurz vor dem Friedhof. Ich holte tief Luft und machte mich bereit. Ich ging auf dem Friedhof und die gleiche Runde wie das letzte Mal. Als ich mir fast schon sicher war, dass er doch nicht hier war sah ich einen Mann vor einem Grab stehen. Ich zögerte einen Moment, ging dann aber doch weiter auf ihn zu. Er musste mich gehört haben, denn er drehte sich zu mir um. Seine Augen glühten rot.

'Ich wusste, dass du mich suchen würdest.' Sagte er. Der Typ war groß - ein ganzes Stück größer als ich - und hatte dunkelbraune Haare. Er trug eine schwarze Lederjacke und blaue Jeans. Irgendwie wirkte er ziemlich bedrohlich, und das nicht nur weil er auf einem Friedhof stand und seine Augen glühten.

'Wer bist du?' Fragte ich ihn.

'Sean ist mein Name.' Sagte er. 'Und du bist?'

'Liam.' Sagte ich und merkte wie ich zitterte.

'Nun Liam, du musst keine Angst vor mir haben.' Sagte er und kam einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück ohne es zu wollen.

'Du hast mich gebissen.' Sagte ich und er nickte. 'Warum?'

'Gute Frage.' Sagte er und legte den Kopf schief. Er war unheimlich. 'Ich wollte noch einen Wolf bevor ich von hier verschwinde.'

'Was meinst du damit?' Fragte ich ihn. Ich kapierte nicht worauf er hinaus wollte.

'Nun, vor vielen Jahren machte mir ein Wolf das Geschenk des Bisses und sagte mir, dass man egal wo wir hingehen immer mindestens einen Wolf zurück lassen sollen sobald wir von dort wieder verschwinden.' Sagte Sean.

'Warum?' Fragte ich ihn. Für mich ergab das keinen Sinn. 'Und was meinst du mit Geschenk?'

'Weil wir manchmal Hilfe brauchen wenn wir an einen neuen Ort gehen und bei manchen Dingen können uns nur andere Wölfe helfen. Das wirst du aber später selbst noch feststellen.' Sagte Sean. 'Und findest du es nicht auch großartig so zu sein?'

'Ja schon, aber...' sagte ich, doch ich wusste nicht wie es formulieren sollte. 'Warum ich's?'

'Du bist der erste der überlebt hat.' Sagte er und mir lief es eiskalt den Rücken runter.

'D-du hast die alle getötet?' Fragte ich ihn und bekam Angst.

'Nicht mit Absicht.' Sagte er. 'Du bist der einzigste den ich gebissen habe ohne ihn zu fragen.'

'Warum?!' Fragte ich ihn entsetzt.

'Ich dachte du willst die Gräber schänden.' Sagte er und sein Blick wurde traurig. 'Meine Urgroßeltern sind hier begraben.'

'Sowas würde ich nie tun.' Sagte ich.

'Wie dem auch sei, da du nun hier bist und es wahrscheinlich auch noch eine ganze Weile bleiben wirst kann ich nun gehen.' Sagte er. 'Viel Spaß und sei ein guter Wolf.'

'Warte!' Sagte ich, doch es war zu spät. Er hatte sich in den Wolf verwandelt der mich gebissen hatte und verschwand in die Nacht. Nun stand ich da mit einem ganzen Haufen Fragen und keinen Antworten.

Ich entschied mich dazu nach Hause zu gehen und endlich zu schlafen. Diese ganze Sache schien viel komplizierter zu sein als ich anfangs dachte. Doch da gab es noch etwas das mich störte: er konnte sich in einen richtigen Wolf verwandeln und ich anscheinend nur teilweise. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht merkte wo ich hinging bis ich auf eine Lichtung kam. Es dämmerte schon langsam und die aufgehende Sonne spiegelte sich in dem kleinen See der hier anfing. Ich liebte diesen See und war als Kind oft hier gewesen.

Ich lächelte und setzte mich an das Ufer. Die Wellen platschten leise und ich beruhigte mich. Es dauerte nicht lange und die Erinnerung kam zurück. Nicht irgendeine sondern eine ganz besondere die ich immer hatte wenn ich hier saß und den Wellen lauschte. Ich war noch klein gewesen, vielleicht zwölf und war nachts aus irgendeinem Grund an diesen See gekommen um Ruhe zu haben. Ich war damals eingenickt und als ich aufwachte dämmerte es genauso wie heute. Als ich über den See schaute waren da zwei Wölfe gewesen und nun kannte ich einen von ihnen: Sean. Ich dachte damals es wären einfach nur Wölfe gewesen und ich hatte wahnsinniges Glück gehabt sie überhaupt zu sehen. Die Augen der Wölfe hatten damals nicht geglüht, vielleicht ein Trick den ich irgendwann noch lernen würde.

Ich schloss die Augen und lauschte einfach nur den Wellen. 'Wie gerne wäre ich auch ein Wolf.' Murmelte ich und bekam plötzlich höllische Schmerzen. Ich versuchte mich mit meiner rechten Hand auf den Boden zu stützen, doch sie gab nach und ich klatschte mit dem Gesicht auf den Boden. So schnell wie die Schmerzen gekommen waren so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Ich atmete leicht keuchend und setzte mich wieder auf. Doch irgendwas war anders. Ich könnte besser sehen und alles viel deutlicher hören und riechen. Ich schaute an mir herunter und zuckte zusammen. Ich sah meine Beine nicht sondern Pfoten und einen Schwanz. Ich stand auf und war überrascht sehr nah am Boden zu sein. Jetzt Verstand ich: ich hatte mich in einen echten Wolf verwandelt.

Mein Fell war schwarz und glänzte wie Seide. Als ich mein Spiegelbild im Wasser betrachtete konnte ich meine glühenden blauen Augen erkennen. Irgendwie gefiel mir was ich sah und mich überkam das Bedürfnis zu heulen. Also tat ich genau das. Mein heulen war irre laut und ich genoss es. Einen Moment später hörte ich aus weiter Ferne eine Antwort. Es war Sean der sich von mir verabschiedete.

Ich stand auf und begann zu laufen. Erst langsam und dann immer schneller und schneller. Ich flog regelrecht über den Waldboden. Ich hatte mich noch nie in meinem ganzen Leben so frei und wohl gefühlt. Diese Stärke war einfach der Wahnsinn und ich spürte die Macht die ich nun hatte. Sean hatte Recht, der Biss war ein Geschenk. 

That One Night in the ForestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt