May

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May, meine May. Meine allerliebste Cousine.

Sie war so intelligent. Egal, welche Aufgabe es war, sie fand eine Lösung. Außer zum Kunstunterricht. Aber das fiel auch nicht weiter auf. Es war nicht ihre gute Laune oder ihr quirliges Wesen, die herausstachen, sondern ihr Ehrgeiz.

Ihre Noten waren tadellos, eine Drei kam einer Katastrophe gleich. Das typische 'Streber'-Problem. Obwohl es für sie eigentlich nie existierte, weil kaum ein Lehrer es je wagte, sie schlechter als gut zu bewerten. Denn das war sie. Gut. Sehr gut. Plus.

Sie war meistens freundlich. Aber sie hielt sich mit ihrer Meinung auch nicht hinter dem Berg. Sie diskutierte gerne und viel und wenn sie mal wieder früh am Morgen oder spät am Abend damit anfing, wollte man öfter mal schreien. Aber nur kurz. Sie war so etwas wie meine beste Freundin. Wir vertrauten einander blind und unsere hysterischen Übermüdungsanfälle waren legendär. Und wenn wir uns nachts schrieben, wie viel wir einander bedeuteten, lächelte ich.

Aber es waren nicht nur schöne Chats. Es waren Erzählungen von einer gebrochenen Seele, die sich selbst zum Limit trieb. Ihr Ehrgeiz wurde krankhaft, das Lernen eine Obsession. Sie kämpfte. Sie kämpfte, aber ihr Pflichtbewusstsein gewann. Ihre Panik stieg. Jahrelang sagte ich ihr, sie bräuchte Hilfe. Professionelle Hilfe. Aber sie hatte Angst. Sie spürte den Druck in jeder Sekunde. Manchmal weinte sie und schrie und ich musste sie am Telefon beruhigen.

Parallel fühlte sie sich immer unwohler in ihrem Körper. Sie schämte sich für das bisschen Bauch, das sie hatte. Immer wieder hörte ich von irgendwelchen versuchten Diäten. Sie aß weniger und manchmal gar nichts. Aber ich konnte sie nicht abhalten. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie nicht mehr davon ab. Irgendwann würde sie es schon verstehen, wenn kein Sport und keine Diät ihr Erleichterung verschaffte. Sie wurde Veganerin. Der Stolz, der bei der Erwähnung in ihrer Stimme mitschwang, machte mich krank. Sie war krank.

Alles lief normal weiter. Ich hörte von jeder Seite, wie neidisch man doch auf Mays Noten sei. Ich lächelte und nickte. Es ging niemanden etwas an.

May war perfekt.

Bis zu dem Tag, als sie ihre erste Panikattacke bekam, und sich jeder fragte 'Wieso?'.

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