Der rote, tote Morgen

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Es war früh am Morgen, als Allen wach wurde. Zumindest sagten ihm das die roten Ziffern auf seinem Wecker, dass es viertel nach Acht an einem Samstagmorgen war. Die Jalousien waren vollständig herunter gelassen, sodass die Sonne durch keinen Spalt kriechen konnte und Kanda somit vor ihren brennenden Strahlen geschützt war.
Schlagartig fiel Allen die gestrige Nacht wieder ein und er drehte sich um, als er die kalten, muskulösen Arme, die von hinten um seinen Körper geschlungen waren, bemerkte. 'Kanda ist geblieben...' Er betrachtete das Gesicht des friedlich schlafenden Vampirs. Er wirkte so friedlich, so voller Ruhe.
Der Weißhaarige lief rot an, als er realisierte, dass der Dunkelhaarige sein Shirt vom Abend nicht mehr trug. Die silbernen Augen betrachteten interessiert das schwarze Tattoo, welches auf seiner linken Brust prangte und sich in Form von schwarzen Blitzen über seine Schulter und Oberarm zog. Im Zentrum des Tattoos auf seiner linken Brust war ein, wahrscheinlich japanisches, Zeichen, von welchem die Blitze auszugehen schien.
Vorsichtig legte Allen seine schmale Hand auf den definierten Oberkörper, auf die schwarze Tinte unter Kandas kalter Haut.
'Ich wüsste echt gerne die Bedeutung dieses Zeichens.'
Er hörte, wie etwas schweres in einem der Nachbarräume auf den Boden klatschte. Allen seufzte, ehe er sich langsam von Kandas Körper löste. 'Ich kann nicht riskieren, dass er hier einfach reinplatzt. Wenn er Kanda hier sieht, krieg ich echt was zu hören.'
Er schnappte sich einige Klamotten zum wechseln, als ihm auffiel, dass seine angezogenen Sachen mit getrockneten Blut befleckt waren. Sein Blick wanderte zu dem nicht mehr ganz taufrischen Parkettboden, auf welchem eine dunkle Pfütze von Kandas Blut deutlich zu sehen war. 'Ob sein Blut mich zu einem Vampir machen würde? Hat er mich deshalb davon abgehalten, es zu probieren? Vielleicht ist die Verwandlung sehr schmerzhaft, und er will mir das ersparen... Oder er will mich so behalten wie ich bin. Vielleicht wird er mich irgendwann verwandeln, dann wäre ich frei...' Als er realisierte, was er da dachte, riss Allen die Augen auf. 'Will ich das überhaupt? Oder er? Dann wäre ich ihm nicht mehr nützlich, da ich kein menschliches Blut mehr in mir hätte!' Er sah zu dem schlafenden Vampir, ehe er sich mit einem Lächeln entschied. 'So oder so, es ist nicht meine Entscheidung. Und mein Schicksal werde ich einfach akzeptieren, komme, was da wolle.'
Seine Gedanken kreisten um Kanda, als er sich in seinem kleinen Bad umzog. Er besah sich im Spiegel und strich über die lange Narbe, die von seiner linken Schulter gerade herunter bis zu seinem Torso ging. Er verdankte einem besonders cholerischen Mann, der sich über die 1.500$ geärgert hatte, die Allen ihm abgeluchst hatte.
Ob Kanda die Narbe stören würde? Ihn störte zumindest nicht die Narbe in seinem Gesicht, was Allen sehr erfreute. Doch diese monströse Narbe...
Der Weißhaarige zog sich an, um nicht weiter daran  denken zu müssen, was mit ihm passieren würde, sollte Kanda ihn zurückweisen.
Ein Gefühl der Erleichterung machte sich in ihm breit, als er das weiße Hemd anzog und somit die Narbe verdeckte.
Auf Zehenspitzen schlich er aus dem Bad in Richtung Wohnzimmer. Dort rappelte sich ein offenbar total verkaterter Cross vom modrigen Teppich auf und sah Allen aus noch nicht ganz wachen Augen an. "Junge, gib mir was mit Alkohol.", maulte er. 'Gut gelaunt wie eh und je.'
Der Weißhaarige schenkte seinem Vormund ein Glaß Brandy ein und reichte es ihm. Cross leerte es in einem Zug.
"Nun, mein Idiot von einem Lehrling.", begann er. 'Ich bin nicht dein verdammter Lehrling, es sei denn du siehst es so, wenn du mir nur beibringst, wie man bei den verschiedensten Kartenspielen am besten schummelt. Du sollst eigentlich auf mich aufpassen, damit ich nicht komplett missrate, aber ist ja egal.', dachte der Junge bissig, ehe er Cross weiter zuhörte.
"Das Geld was du einbringst ist leider oft nicht genug." 'Bitte was?! Ich bring meistens mehr als eineinhalb Riesen mit!'
"Ich hab mir was überlegt. Du hast einen sehr zierlichen Körper und eine wahnsinnig nervig-weinerliche Art. Du siehst nicht aus wie volljährig, doch da du es bist, wäre es kein großes Problem für dich..." Allen wurde schlecht.
'Will Cross mich... verkaufen?!' Bei dem Gedanken weiteten sich seine Augen. "Du könntest echt was einbringen. Du siehst sehr, sagen wir besonders aus und es gibt Männer, denen sowas gefällt, und die einiges dafür hinlegen würden, dich für ein paar Stunden für sich zu haben."
Je nach dem wie das noch ging, wurde Allen noch bleicher. "Das... Cross das kann nicht dein verdammter Ernst sein!" Der Rothaarige stand auf und schmiss das leere Glaß, welches er noch in der Hand hatte, zu Boden.
"Du hast nichts zu verlieren und dich ein wenig zu verhuren würde deiner Aufsässigkeit echt gut tun!"
Er machte zwei große Schritte auf Allen zu. Der Weißhaarige wich zurück, bis er mit dem Rücken an den Chaotischen Schreibtisch hinter sich stieß. Cross packte ihn am Arm. "Ich bin dein Vormund und habe dich gnadenvoll unter meine Fittiche genommen! Du wirst verdammt nochmal tun, was ich dir sage!" Panisch griff Allen hinter sich, suchte nach etwas, nach irgendetwas, was ihn davor bewahren könnte. Blind griff er den nächstbesten Gegenstand, den er leicht mit den Fingern umschließen konnte. Ein Brieföffner. "Nein! Niemals!" 'Niemals werde ich das tun!'
Und er rammte die Klinge des Öffners in Cross's Seite.
Der Rothaarige taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings, wie ein nasser Sack, zu Boden.
Allen stand einfach da, hielt den Brieföffner umklammert, und sah mit geweiteten Augen auf Cross hinab. 'Was... Oh mein Gott...'
Er sah zur Tür, als er Schritte hörte, und erblickte Kanda, welcher ungläubig die Szene vor sich betrachtete, ehe er zu Allen sah.
"Kanda... Was...", hauchte der Junge, als er auf den Vampir zu ging. Der Dunkelhaarige schloss ihn in seine Arme und Allen ließ das Messer fallen. "Was habe ich getan?"
Der Menschenjunge presste sich an die starke Brust. Auch wenn die Haut des Vampirs kalt war, spendete sie ihm doch Geborgenheit und Wärme. Kanda küsste ihn sanft aufs Haar und schloss ihn noch fester in seine Arme.
"Ich... er wollte, dass ich..." Die Fingernägel des Weißhaarigen gruben sich in Kandas Rücken. "Dass ich... mich verkaufe... um mehr Geld zu bekommen."
Der Vampir fühlte, wie eine heiße Welle des Zorns durch seinen Körper strömte. 'Wie kann dieser Bastard es nur wagen, so etwas von meinem Moyashi zu verlangen?!'
"Rufen Sie... die Polizei!", röchelte Cross vom Boden und Allen schien sich in den Armen des Größeren noch kleiner machen zu wollen. "Dieses Balg hat mich einfach so abgestochen! Nur weil ich ihm einen guten Job vorgeschlagen habe!" Er fuhr mit seiner Hand zu der Wunde, das Gesicht im Schmerz verzerrt.
"Verdammt man, rufen Sie mir einen verdammten Krankenwagen!"
Kanda betrachtete den Rothaarigen verächtlich, ehe sich sein Blick auf das warme, dickflüssige Blut richtete. Allens Blut hatte ihn heilen können, doch die Menge, die er getrunken hatte, hatte weit nicht ausgereicht, seinen Durst zu stillen. 'Ich werde diesem Arschloch zeigen, was ich mit Menschen machen kann, wenn ich wirklich sauer bin.', dachte er, sein kalter Blick noch immer auf Cross gerichtet.
Er sah auf den Menschenjungen in seinen Armen hinab und küsste ihn noch einmal auf sein Haar.
"Moyashi, du solltest hier raus." Überrascht sah Allen ihn aus seinen großen, silbernen Augen an. "Warum..." "Vertrau mir, Moyashi. Dieser Bastard wird dir nie wieder etwas antun können." Der Dunkelhaarige küsste seinen Menschenjungen auf die Stirn. "Ich bin stolz auf dich. Dass du dich von ihm nicht mehr kontrollieren lässt. Doch überlasse den Rest mir.", flüsterte er gegen seine die weiche, helle Haut. Er führte den Jungen zur Tür des Wohnzimmers. "Ich verschließe die Tür hinter dir."
Allen verließ den Raum und hörte, wie Kanda die Tür hinter ihm schloss.
Der Weißhaarige stand einfach da, wie betäubt, als er gurgelnde Schreie und dumpfes Aufschlagen eines Körpers aus dem Raum hörte. Glass schien zu zersplittern und er hörte, wie etwas zu Boden tropfte. Das Zerreißen von Stoff und Haut, das Knacken von zersplitternden Knochen.
Alles wurde jedoch von einem monströsen Grollen überschattet, wie aus der Kehle eines blutrünstigen Monsters.
Allens Herz raste, als er versuchte, die Geräusche aus dem Zimmer zu überhören. Er wollte das Gurgeln mit seinen Gedanken an irgendein Lied übertönen, das dumpfe Aufschlagen des Körpers gegen das Bücherregal, den Boden, die Wand, ignorieren. Eine Träne rollte seine Wange hinab. 'Was habe ich getan...' Er haderte mit sich. Was sollte er fühlen?
Erleichterung? Angst? Selbsthass? Befriedigung?

Nach einiger Zeit des Nachdenkens bemerkte Allen, dass es im Wohnzimmer ruhig geworden war. Vorsichtig ging er zurück an die Tür, legte sein Ohr an das Holz und lauschte. Das einzige, was noch zu hören war, war ein Schlürfen und Schluckgeräusche.
Der Weißhaarige löste sich wieder von der Tür. Er wollte das nicht mit anhören.
Langsam entfernte er sich von der Tür, ging ein wenig den Flur entlang, ehe er stehen blieb und mit seinen Armen seinen schmalen Körper umschloss. Er schauderte, ihm war so kalt, als stünde er in seinem persönlichem Gefängnis aus Eis.

Hinter ihm öffnete sich leise die Tür und er spürte, wie ihn starke, muskulöse Arme von hinten umschlangen. Die rote, klebrige Flüssigkeit an den vertrauten Armen war noch warm und sein weißes Hemd sog sich voll. Er spürte wie das Blut auch seine Haut durch den Stoff berührte.
Auf seiner Wange wurde ein sanfter Kuss platziert. "Es ist vorbei, Moyashi.", flüsterte die ihm wohl bekannte, tiefe Stimme des Vampirs sanft ins Ohr Allen drehte sich langsam zu Kanda um, um ihn ansehen zu können. Bei dem Anblick weiteten sich seine Augen.

Der gesamte Mundbereich bis zu den hohen Wangenknochen war mit Blut getränkt. Es lief am Hals hinab und die roten Tropfen rannen seine Brust hinab. Auch seine Arme waren vom Oberarm bis zu den Fingerspitzen in Rot getaucht. Die langen, dunklen Strähnen seines so wunderschönen Haares waren mit Blut verklebt.
"Kanda...", hauchte der Menschenjunge. Mit seinen großen, silbernen Augen sah er noch immer so voller Wunder in die dunklen Augen des Vampirs. Er legte seine Hände auf die Wangen des Größeren und strich mit seinem Daumen über die mit Blut benetzte Haut.
Er stellte sich auf seine Zehenspitzen, schloss die Augen und küsste die blutigen Lippen.
Kanda erwiderte nach kurzer Überraschung, griff mit seinen Fingern in das weiche weiße Haar und färbte es rot. Der Vampir spürte, wie Allen seine Arme seinen Nacken schlang.
Als Kanda den Kuss zu vertiefen begann, fühlte Allen eine Hitze in sich aufsteigen. Sie floss durch seine Adern, verleitete ihn dazu, sich noch mehr an Kanda zu klammern.
Er wusste nicht, was er tun sollte, also ließ er sich einfach in Kandas Arme fallen, in den Kuss, in seine Emotionen. Er ließ alles heraus, fühlte Tränen seine Wangen herunterlaufen, presste sich enger and Kanda.

Als sie den Kuss lösten, presste sich Allen an Kandas muskulöse Brust. Die Arme des Vampirs hielten ihn sicher und geborgen, und auf seinem weißen Haar spürte er, wie Kanda ihn küsste.
Es gab eine angenehme Stille, in welcher Allen einfach nur auf ihrer beider Atem hören musste. Er musste über nichts nachdenken und brauchte einfach nur diese Geborgenheit, die der Vampir ihm spendete.
"Wir könnten wohl beide eine Dusche vertragen.", meinte Kanda nach einer Weile der Stille. "Bakanda, du hast gerade die Stimmung zerstört. Das weißt du, oder?", murmelte Allen mit geschlossenen Augen und lächelte. Kanda schnaubte. "Na komm Moyashi.", grummelte er und nahm den Jungen bei der Hand um ihn zum Bad zu führen.
Allen ging mit ihm, als er versehentlich in das Wohnzimmer blickte, und abrupt stoppte.
Sehen konnte er nicht viel, da Kanda sofort reagierte und die Tür schloss, doch er konnte blutige Spritzer an den Wänden und Bücher, welche auf den Boden gefallen waren, erkennen.
Und Cross, welcher auf dem Boden lag.
Er hatte Schürf- und Platzwunden erkennen können, den offenen Mund mit möglicherweise ausgerenkten, gebrochenen Kiefer und den zerfetzten Hals. Seine Augen waren weit aufgerissen und waren nach gerichtet, ohne etwas zu sehen.
"Moyashi", hörte er Kanda sagen, doch es war wie durch Wasser, undeutlich und verschwommen. Kanda griff ihn an den Schultern. "Allen. Du solltest dir das nicht ansehen. Komm." Er nahm den Menschenjungen an der Hand und zog ihn etwas bestimmt von der Tür weg.

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Führerscheinprüfung und Schule stressen mich gerade sehr, weshalb dieses Kapitel jetzt leider nicht so lang ist wie gewohnt, aber ich wollte euch jetzt nicht zu lange warten lasse :3
Übrigens, dieses Kapitel war angelehnt an den Horrorfilm/ das Buch "So finster die Nacht", beziehungsweise dem US-Remake "Let Me In". Unbedingt schauen und lesen, sowohl Buch als auch Film(e) sind genial <3

Mond um MitternachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt