95. Kapitel

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Ein Klopfen lässt mich erschrocken die Augen öffnen. Ich sehe mich um. Wo bin ich? „Mach auf. Hier draußen ist es echt ungemütlich.“, höre ich. Ich öffne die Tür und wenige Sekunden später setzt sich Chris zu mir ins Auto. Mit aufgerissenen Augen schaue ich ihn an. „Boah, du siehst aus. Ey, als hätte dich einer überfallen.“, lacht Chris. Ich lache mit. „Klar. Mich überfällt man auch so leicht.“, lache ich. Chris lacht auch. „Stimmt. Zu mindestens klauen die nicht dich.“, scherzt Chris. Ich nicke. „Danke. Vielen lieben Dank. So schätzt du mich also.“, sage ich und plötzlich holt mich die Erinnerung ein. „Wie lange hast du gebraucht?“, frage ich. Chris schmunzelt. „Ich musste nur eben was nachfragen.“, erklärte er. Ich sah ihn erstaunt an. Nachfragen? Was nachfragen? „Aha.“ Ein Einfaches Aha. „Ist was?", erkundigt er sich. Ich schüttele den Kopf. „Nein, alles klar. Sollen wir noch eben zu dir?“ Chris nickt. Ich glaube, man lässt langsam los. Langsam. Keine Ahnung. „Hast du was von Mama gehört?“, fragt Chris. Er nennt sie Mama! Innerlich ausflippt. Ich meine, er ist sich vielleicht auch gar nicht sicher, ob es seine Mutter ist. Wir hätten ihm ja auch einen vom Pferd erzählen können. Also! „Nein. Ich glaube, sie genießt es wirklich sehr. Diese Pause und Ruhe. Das tut ihr endlich mal ganz gut.“, sage ich. Chris nickt. Okay, super Gespräch und gut das wir drüber gesprochen haben.

Durch den Straßenverkehr zu Chris nach Hause. Ich habe hier auch Mama abgesetzt. Und sie meinte, sie bräuchte einige Dokumente. „Ich will nur eben ein paar Dokumente holen. Für den Arzt noch. Und ich muss eben was weg bringen.“, sagt Chris. SEIN ERNST? DOKUMENTE? Ich werde nicht mehr! DIESE WELT BRINGT MICH UM! „Dokumente?“, man wird ja wohl mal nachfragen dürfen. „Ja, irgendwas wegen der Krankenkasse.“, erklärt Chris. Aha, so zieht er seinen Kopf aus der Schlinge. „Ach, ich muss dich noch was fragen.“, schiebe ich nach. Chris nickt. „Alles klar, wollen wir aussteigen?“, fragt er. Ich habe geparkt und wir steigen aus. Und hier stehen wir. Vor seiner Bude. Alte Erinnerungen. „Hast du einen Schlüssel?“, fragt Chris. Ich schüttle den Kopf. Upsi, vergessen. „Nein. Ich habe keinen. Also, nicht hier.“, antworte ich. Chris nickt. „Kein Problem.“ Denkste oder? Ich schlucke. Ach, wie will er jetzt rein? So ein Pech! Gehen wir wieder. Bleib einfach bei mir. „Hier ist der Ersatzschlüssel also.“, höre ich Chris Stimme. Im Briefkasten. Super Idee. „Ach ne, schön. Dann können wir ja jetzt rein.“, freut sich Chris. GRUMMEL! FAUCH! Onomatopoese. Laut auszusprechende Geräusche. Wie knirsch oder so. „Ich gehe vor.“, meint er. Wie ein kleines Kind. Okay, ich kann es verstehen. Nach so langer Zeit dahin zu kommen, wo man vor dieser Zeit auch war. Das ist schon, ich neige dazu, zu sagen ein wunderbares Erlebnis. Und ich denke, das ist es auch. Chris dreht den Schlüssel im Schloss herum. In Zeitlupe. Angehaltener Atem und zitternde Hände.

„Welcome home.“ Chris betritt seine Wohnung. Ich folge ihm. Wie ein kleines Kind steht er da. In seinem Wohnzimmer.  „Hab ich gar nicht mehr so in Erinnerung.“, sagt er. Ach ja? Er kann sich an seine Wohnung erinnern? „Ich war auch mal kurz zu Besuch. Um deine Blumen zu gießen.“, erkläre ich. Chris dreht sich zu mir. „Ich hatte Blumen?“, staunt er. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Nein. Eigentlich nicht. Ich war bloß mal hier, um nach dem Rechten zu schauen.“, grinse ich. Chris lacht. „Aber sicher! Natürlich habe ich keine Blumen.“, antwortet er und dann wirft er mir diesen Blick zu. Diesen „Ach-bist-du-dir-sicher?-Oder-was-hast-du-mit-meinen-Blumen-gemacht?“-Blick. Ich schlucke. Keine Blumen! Hier waren keine! „Du hast wirklich keine.“, sage ich. Chris nickt. „Ich weiß, ich wollte dich nur so angucken.“, lacht er. Ich stimme mit ein. Alles klar, Humor hat er und kontern kann er auch. „Oh, vielen lieben Dank.“, grummel ich. Chris nickt und tastet sich weiter durch seine Wohnung. „Ich setz mich hier hin.“, rufe ich und sitze schon auf seiner Couch. Bequem, ich könnte auch die ersten Nächte hier schlafen. „Mach das, ich suche inzwischen…“, der Rest geht irgendwo unter. Ich nicke und plötzlich fällt es mir, wie Schuppen von den Augen. Was sucht Chris? Na, was wohl! Die Verfügung! „Kann man dir helfen?“, frage ich. „Ne, lass mal. Ich will ein bisschen was erkunden.“ Erkunden? In deinen eigenen vier Wänden? „Aha.“, mehr bringe ich nicht. Ich erheb mich. „Suchst du was bestimmtes?“, frage ich. Keine Ahnung, kam einfach gerade raus. Chris erscheint hochrot im Türrahmen. „Eigentlich nicht, es sei denn, du hast etwas spannendes gefunden.“, lacht er und neigt den Kopf. Ich sehe ihn unsicher an. Soll ich was sagen? Ich wollte ihn eh was fragen. Keine Ahnung, warum macht einem das bloß so viel zu schaffen?

„Ich habe nichts gefunden.", sage ich. Kopf, du entscheidest echt komisch. Herz, du bringst echt alles durcheinander und mein lieber Andreas, sag endlich was. „Aber ich müsste dich trotzdem mal was fragen?“ Super. Endlich mal was, was von allen Beteiligten hier einstimmig beschlossen und in die Tat umgesetzt wurde. Sehr gut! „Was denn? Ist es was Schlimmes?“, will Chris wissen und er setzt sich auf die Couch. Ich stehe. Ich könnte mich auch setzen. Aber, nein. Ich stehe. „Ich will dich nicht, also, ich will das jetzt irgendwie nicht überstürzen und so. Aber es wäre für mich langsam echt gut zu wissen, was du alles weißt. Denn offensichtlich weißt du eine Menge, aber für mich bist du immer noch der, ohne Erinnerung und der im Krankenhaus. Der fast gestorben ist und bei dem ich so viel Angst hatte. Chris, ich glaube, kurz gesagt. Ich will wissen, wo wir stehen. Auf Dauer geht es mir nämlich mega beschissen, weil ich nicht weiß, was ich tun kann oder wie ich mit welcher Situation umgehen soll.“, erkläre ich. So. Jetzt habe ich es gesagt. Darüber gesprochen. Es muss aus der Welt. Muss weg. Jetzt, irgendwie. Kommt da noch eine Antwort? Warum mache ich mich so fertig? Selbstmitleid? Angst? Wut, Zorn? Da wären wir wieder! Beim Hass. Dem Selbsthass, der Wut. Der Angst und beim Zorn. Bei der Versuchung alles hin zu schmeißen. Chris guckt mich an. Was soll er sagen? „Sag was.“, bitte ich ihn, doch es bleibt still.

A Long Way - Ehrlich Brothers FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt