Tinnitus

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Oh Gott, was für ein Tag! Mein Auto war durch den TüV gefallen, ich hatte einen Anschiss für die Verspätung bei einem wichtigen Projekt kassiert und mir am Nachmittag eine heiße Tasse Kaffee vor dem versammelten Kollegium über die weiße Bluse gekippt. Jetzt brummte mein Schädel. Seufzend ließ ich mich auf das Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein. Im TV stritten zwei Freundinnen darüber, ob die eine sich die Nase richten lassen sollte, oder nicht. Ich ließ den Sender drin. Das war genau das Richtige für einen solchen Abend.

Ich war gerade kurz davor, zum Jingle irgendeiner Handywerbung einzudösen, als direkt neben meinem rechten Ohr ein lautes Pfeifen erklang. Ich zuckte zusammen. Der Ton hatte sich angehört, wie eine Miniatur-Vuvuzela. Mein Herz klopfte. Hektisch sah ich mich um. Der Feuermelder konnte es nicht gewesen sein, der hätte nicht einfach aufgehört und klang auch anders. Dann entdeckte ich das kleine Plastikschildchen an der Decke. Vielleicht hatte es an meinem Ohr gerieben und dieses Geräusch erzeugt? Ich merkte, dass ich von dem Schreck immer noch zitterte und atmete tief durch, um mich zu beruhigen. Als ich mich gerade hinlegen wollte, pfiff es erneut direkt neben meinem Ohr, drei Mal insgesamt. Ein weiteres Mal erschrak ich und blickte mich um. Nichts. Ein Schauer lief mir über den Rücken, der Ton war wirklich ekelhaft. Was konnte das sein? Es klang ganz nah. Dass der Ton aus der Nachbarwohnung kam, konnte ich ausschließen. Es klang fast, als würde es aus meinem Ohr kommen. Hatte ich vielleicht Tinnitus? Ich war bisher immer davon ausgegangen, dass man unter Tinnitus einen dauerhaften Piepton verstand und kein kurzes, abgehacktes Tuten. Schnell verdrängte ich den Gedanken wieder. So etwas konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen!

Doch in dem Moment hörte ich es erneut und zuckte zusammen. Kam das etwa aus der Wand? Ich runzelte die Stirn „Das ist doch verrückt". Dennoch konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und legte mein rechtes Ohr an die Tapete. Dann lauschte ich eine Weile. Als ich mich gerade wieder aufgerichtet hatte, tutete es erneut. „Das gibt's doch nicht!" Inzwischen ging mir das Piepen auf die Nerven. Ich stand auf und lief hinaus in den Flur meiner Wohnung. Auch dort horchte ich wieder. Nach wenigen Sekunden hörte ich auch hier das Geräusch. Genau so nah bei mir, wie im Wohnzimmer. Ich rieb mir die schmerzenden Schläfen. Im Fernseher sagte jemand etwas über einen gemütlichen Feierabend. „Von wegen", murmelte ich frustriert vor mich hin.

Da kam mir eine Idee. Vielleicht hatte es etwas mit den elektrischen Leitungen hier in der Wohnung zu tun. Wo war denn nochmal dieser Sicherungskasten? Ich sah mich um und entdeckte das unscheinbare graue Türchen, das ich bisher nur bei meinem Einzug beachtet hatte. Mein Schrank passte gerade so daneben, ohne es zu verstellen. Auf dem Weg dorthin pfiff es wieder in meinem Ohr. Der Ton war unverändert. Dieses Mal erschrak ich nicht mehr ganz so sehr, merkte aber, wie Wut in mir aufstieg. Meinen entspannten Abend konnte ich dann wohl vergessen.

Als ich versuchte, den Stromkasten zu öffnen, bemerkte ich, dass er abgeschlossen war. Wo war der verdammte Schlüssel? Nachdenklich kratzte ich mich am Kopf, woraufhin mein rechtes Ohr wieder anfing zu pfeifen. Kam das Geräusch aus der Wand, an der ich vorhin gelauscht hatte? Die Richtung könnte stimmen. Aber eigentlich war ich gerade ja auf der Suche nach dem Schlüssel. „Konzentrier dich", befahl ich mir. Wenn mich nicht alles täuschte, lag er in der Küche, in dem kleinen Kästchen, in dem auch Notizzettel und Stifte für den Einkauf lagen. Dort sammelte sich mit der Zeit alles Mögliche, von Haargummis über Kassenbons und Kleingeld. Unglaublich, was in so einen kleinen Kasten alles hinein passte. Das Pfeifen riss mich erneut aus meinen Gedanken. Unschlüssig blieb ich stehen, entschied mich dann, nochmal an der Wand zu lauschen. Doch kurz bevor ich mein Ohr an die Tapete legte, hielt ich inne. War das nicht total irre, was ich hier tat? Da! Das Pfeifen. Hastig lehnte ich den Kopf gegen die Mauer und lauschte. Nichts. Doch! Da war es wieder. Es schien lauter als vorher? Oder täuschte ich mich? Aber selbst wenn es aus der Mauer kam, was konnte es dann sein? Ratten? Stromleitungen? Heizungsrohre? Alte Wanzen, deren Strom zur Neige ging? Alt genug wäre das Haus ja. Hatten Abhörwanzen überhaupt Batterien? Ich erwischte mich bei der Überlegung, wie ich wohl die Wand auf machen konnte, um zu sehen, was sich darin befand. Im Keller müsste noch ein Betonbohrer sein. Und mein Nachbar hatte einen dieser Vorschlaghämmer. „Okay, dreht jetzt nicht durch", ermahnte ich mich. Ich spürte, wie meine Knie zitterten. Wieder das Pfeifen. Es kam eindeutig aus der Wand. „Jetzt reichts!"

Ich schnappte mir meine Wolljacke und rannte hinunter in den Keller. In meinem Kopf rasten die Gedanken durcheinander. Wo war denn gleich dieser Betonbohrer? Ich entdeckte ihn direkt hinter der Tür. Als ich das schwere Gerät unter den Arm klemmte, hielt ich kurz inne. War hier das Pfeifen zu hören? Eine gute Minute wartete ich ab. Nichts. Also musste es die Wand sein. Hastig stieg ich die Stufen wieder hinauf. Zurück in meinem Flur suchte ich eine passende Steckdose und hielt den Betonbohrer an die Wand. Dann drückte ich auf den Powerknopf und der Bohrer fraß sich langsam, aber sicher in die Wand.

Dann ging das Licht in der Wohnung aus und der Bohrer gab noch ein kurzes, säuselndes Geräusch von sich. Scheiße! Ich hatte eine Stromleitung erwischt. Wenige Sekunden lang war es totenstill. Dann pfiff es wieder. „Mist, Mist, Mist!" In dem Moment realisierte ich, was ich soeben getan hatte und ließ den Bohrer in meiner Hand sinken. Mit der freien Hand raufte ich mir die Haare. Woher kam dieser verfluchte Ton? „Durchatmen. Ganz ruhig!" Für einige Sekunden schloss ich die Augen und legte dann den Bohrer auf den Boden. „Ich muss systematischer vorgehen."

Schleichend lief ich durch die Wohnung und lauschte aufmerksam, ob sich etwas veränderte. Doch egal, wohin ich ging, das Pfeifen kam in unregelmäßigen Abständen immer wieder, überall gleich laut. Meine Verzweiflung wuchs. Ich lauschte an sämtlichen Wänden, öffnete meine Fenster, legte mein Ohr an die Schränke und sogar an meinen Gummibaum. Doch nichts änderte sich. Überall dasselbe Geräusch. Verzweifelt ließ ich mich auf das Sofa sacken, was sofort von einem Pfeifen quittiert wurde, und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich war mir sicher, den Verstand zu verlieren. Ich hatte soeben versucht, meine Wand aufzubohren! Wie hieß nochmal diese Krankheit, bei der man Stimmen oder Geräusche hörte, die gar nicht da waren? Vielleicht hatte ich das ja auch und das Pfeifen war nur ein Vorgeschmack des Wahnsinns, der mich bald ereilen würde. Aufgebracht schüttelte ich den Kopf. Das Tuten ertönte wieder und etwas kitzelte mich in meinem Ohr. Als ich mich kratzen wollte, spürte ich einen kleinen Knubbel. Panisch zog ich meinen Finger weg, um das Was-auch-immer nicht tiefer in meinen Gehörgang zu schieben. Was konnte das sein? Kam das Pfeifen aus dem Ding in meinem Ohr? Sofort kamen mir Bilder aus Science-Fiction Serien und Menschenexperimenten in den Kopf. Voller Angst schüttelte ich den Kopf. „Ouuaaaaah." Mit Schwung landete etwas auf dem Ärmel meines Pullis. Mit klopfendem Herz und rasendem Atem starrte ich das kleine Etwas an. Das Pfeifen ertönte. Dieses Mal jedoch leiser und eindeutig dem Käfer zuzuordnen, der da auf meinem Arm saß. Immer noch zitternd atmete ich auf und plötzlich konnte ich mich nicht mehr bremsen und begann zu lachen. Als ich mich etwas beruhigt hatte, sah ich mir das Insekt genauer an. Es war braun mit helleren Flecken und zwei langen Fühlern auf dem Kopf. Seufzend stand ich auf und brachte das Tierchen zum Balkon. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Ich kam mir auf einmal furchtbar hysterisch vor. Wegen einem unscheinbaren Käfer hätte ich beinahe meine Wohnzimmerwand in Schutt und Asche zerlegt. Was für ein Tag!

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