Die Melodie - Teil 1

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Vor einigen Jahren ist mir etwas wirklich Seltsames passiert, das mich bis heute verfolgt. Es war ein lauer Sommerabend. Der sanfte Wind fuhr durch die Baumwipfel und vereinzelt huschten Eichhörnchen oder kleine Vögel über den Weg. Ich liebte das Geräusch der rauschenden Blätter. In der Dämmerung lag der Waldweg wie ein helles Band zwischen dunklen Wänden vor mir. Um diese Uhrzeit war ich hier meistens alleine. Keine Menschenseele lief mir über den Weg und störte die Ruhe. Die meisten Menschen blieben sowieso auf den richtig breiten Wegen. Auf diesen schmaleren Pfad verirrte sich selten jemand. Doch das war es, was ich an ihm so liebte. Auch an diesem Abend war ich zunächst alleine. Doch dann hörte ich etwas, das nicht hierher zu passen schien und das ich noch nie zuvor gehört hatte. Eine leise Stimme, die vor sich hin summte. Der Wind trug mir die Geräusche mal von der einen, mal von der anderen Seite zu. Ich blickte mich um und sah eine kleine Schneise zu meiner rechten im Gebüsch. Ich ging darauf zu und entdeckte einen kleinen Trampelpfad. Das Summen schien von weiter drinnen im Wald zu kommen. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, um nicht über eine Wurzel zu stolpern. Das Summen wurde nun lauter und ging in zaghaften Gesang über.  Weit konnte es nicht mehr sein. Da sah ich auf einmal ein Glitzern zwischen den Bäumen. War dort vorne ein See? Langsam ging ich weiter. Der vorsichtige Gesang wurde nun lauter. Die Melodie war mir komplett unbekannt. Da sah ich auf einmal eine Silhouette. Am See stand ein Mensch. Er hatte mir den Rücken zugewandt und bewegte sich sanft zu der Melodie. Sie klang fremd und ungewohnt. Ich konnte sie keiner Musik zuordnen die ich bisher gehört hatte. Jetzt war es laut genug, dass ich etwas, das nach Worten klang, heraushören konnte. Aber verstehen konnte ich nichts. Vermutlich sang er in einer mir unbekannten Sprache. Ich traute mich nicht näher an ihn heran, da ich nicht wusste, ob meine Anwesenheit ihn stören würde. Trotzdem wollte ich dieser Melodie weiter lauschen. Sie klang wunderschön und verträumt. Sie steigerte sich immer weiter. Bald schon hatte ich das Gefühl, in einer Oper zu sitzen. Ich schloss die Augen und sah vor mir das Bild von fremden Galaxien und wundersamen Wesen. Manche sahen aus wie haarlose Tiger, andere wie verzerrte Menschen oder Krokodile auf Beinen. Der Duft fremder Umgebungen stieg mir in die Nase. Mal blumig süß, dann intensiv und herb. Einmal bildete ich mir ein, warmen Wüstenwind auf meiner Haut zu spüren. Ich bekam eine Gänsehaut. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken. Und obwohl mir all das, was ich sah, extrem fremd war, verspürte ich keine Angst. Eher Faszination und kindliche Neugier. Dann nahm der Gesang wieder ab und die Bilder verblassen vor meinem inneren Auge. Als der Mann nur noch leise sang und ich das Gefühl hatte, dass er demnächst zum Ende kommen würde, öffnete ich mühsam und etwas widerstrebend die Augen. Verwundert bemerkte ich, dass ich mich wohl hingesetzt und an einen Baumstamm gelehnt hatte. Außerdem stellte ich fest, dass es um mich bereits beinahe stockfinster war. Ich hatte nicht wirklich ein Gefühl dafür, wie viel Zeit vergangen war. Ich dachte, ich hätte dort nur ein paar Minuten verbracht. Aber als ich daheim ankam, stellte ich fest, dass ich insgesamt über zwei Stunden weg gewesen war. Ich musste dem Mann also fast eine ganze Stunde gelauscht haben.

Dieser seltsame Vorfall ließ mir keine Ruhe. An den nächsten Tagen ging ich jeden Abend dieselbe Strecke, in der Hoffnung, die Klänge wieder zu vernehmen. Gleichzeitig machte es mir auch ein wenig Angst. Ich wusste ja nicht, was dieser Kerl da tat. Etwas sonderlich musste er auf jeden Fall sein, wenn er abends alleine in den Wald ging und anfing zu singen. Aber die Vorstellung, wieder einfach da zu sitzen, dieser wunderschönen Melodie zu lauschen und sich von den fremdartigen Bildern davontragen zu lassen war einfach überwältigend. Ich musste diesen Mann noch einmal singen hören. Einmal noch! Dann wusste ich auch, ob es an meiner Stimmung an dem Abend lag, dass ich mich so hatte treiben lassen, oder ob an seiner Stimme tatsächlich etwas Besonderes war.

Acht Tage später war es wieder so weit. Als ich langsam und lauschend an der Schneise im Gebüch vorbei ging, hörte ich seine Stimme wieder. Innerlich freute ich mich wie ein kleines Kind. Ich betrat den Pfad und folgte ihm so weit, bis ich die Silhouette des Mannes erkennen konnte. Auch dieses Mal stand er mit dem Rücke zu mir und blickte auf den See hinaus. Ich setzte mich an den Baumstamm, an dem ich auch das letzte Mal gelehnt hatte und schloss die Augen. Die Bilder kamen langsam. Erst ganz blass und nur kurz. Sie wanderten durch meinen Geist, ohne, dass ich sie richtig fassen konnte. Doch mit der Zeit wurden sie deutlicher. Bilder von fremdartigen Planeten, die riesige Sonnen umkreisten. Bewohnt von wunderschönen, aber auch abstoßenden Kreaturen. Dort gab es fleischige Pflanzen, die Tiere, so groß wie ein Löwe verschlingen konnten. Aber auch ganze Zivilisationen. Manche mochten ungefähr dem entsprechen, was bei uns das Mittelalter war. Andere waren technologisch bereits weiter als wir. Sie erinnerten mich an die Bilder aus dem einen oder anderen Science-Fiction-Film. Dort flogen Kapseln in Kolonnen zwischen riesigen, gläsernen Turmbauten umher. All diese Welten faszinierten mich ungemein. Ich wollte nichts sehnlicher, als dorthin reisen. Das Fernweh packte mich. Ich verspürte eine unglaubliche Sehnsucht danach, all diese Orte selbst zu erkunden. Dann verblassten die Farben langsam und die Bilder wurden wieder unschärfer. Als sie nur noch flüchtig vor meinem inneren Auge aufflackerten, zwang ich mich, die Augen zu öffnen. Der Mann summte nur noch und ich wusste, dass es an der Zeit war, aufzubrechen. Etwas benommen, mit dem Geist noch in den fernen Welten fest hängend, stand ich auf.

Die nächsten Wochen ging ich immer wieder dieselbe Strecke um dieselbe Uhrzeit und lauschte nach diesen wunderschönen Klängen. Jedes Mal freute es mich, wenn ich sie vernahm. Und jedes Mal ging ich nach Hause, kurz bevor sie endeten. Die Melodie war immer ähnlich und klang doch wieder ein bisschen anders. Dann packte mich eines Tages die Neugier. Ich wollte wissen, wer dieser Mann war und warum er an dem See ungefähr einmal in der Woche dieses seltsame Lied sang. Vor allem, warum es diese Bilder in mir auslöste und ob er sie auch sah.

Die nächsten Tage ging ich immer einige hundert Meter vor dem kleinen Pfad auf und ab, in der Hoffnung, ihm dabei über den Weg zu laufen. Schon nach wenigen Tagen hatte ich Glück. Von weitem sah ich die schlanke Silhouette des Mannes um die Ecke biegen. Im ersten Moment erkannte ich ihn nicht, denn er trug einen Hut, den er beim Singen sonst nicht auf hatte. Aber als er etwas näher kam, war ich mir sicher. Ich nahm all meinen Mut zusammen und grüßte ihn, als er fast mit mir auf einer Höhe war. Er erwiderte meinen Gruß mit einem mürrischen „Abend" und lief weiter. Ich war kurz davor, auch einfach weiter zu gehen. Doch dann atmete ich tief durch und drehte mich um. „Entschuldigen sie?" Er blieb stehen. „Entschuldigung, aber ich würde sie gerne etwas fragen." Langsam drehte er sich um, als ich wieder einige Schritte auf ihn zu lief. Von nahem konnte ich seine eingefallenen Wangen und die tiefen Ringe unter den Augen erkennen. Er sah anders aus, als ich es erwartet hatte. Älter. Und kraftloser. Kaum vorzustellen, dass dieser magere Mann eine solche Stimme hatte. Ausdruckslos starrte er mich an. „Ähm, ich habe sie singen gehört und finde ihre Stimme wunderschön." Seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen. „Halten sie sich fern." Die Feindseligkeit, die aus seiner Stimme klang, war erschreckend. „Aber, ich... also ich würde ihnen wirklich gerne zuhören, die Melodie..." weiter kam ich nicht. „Das ist nichts für Sie. Ich kann sie nur warnen. Bleiben sie weg. Vergessen sie, was sie gehört und gesehen haben. Verschwinden sie!" Mit diesen Worten drehte er sich um und entfernte sich von mir. Ich blieb noch einige Sekunden stehen, überrascht von dieser Reaktion. Ich war mir nicht sicher, was ich jetzt tun sollte. Zu gerne würde ich ihm nachgehen und heute Abend wieder der Melodie lauschen. Aber ich hatte Angst, dass er mich dabei erwischen könnte, jetzt, wo er wusste, dass ich ihn schon einmal belauscht hatte. Schweren Herzens ging ich an diesem Abend nach Hause.

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