Der schwarze Schlafanzug

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Es ist das erste Mal, dass ich den Mut fasse, zu erzählen, was mir und vor allem meinem Bruder passiert ist, als wir beide acht Jahre alt waren. Ich weiß nicht was geschehen wird, wenn ich unsere Geschichte vollständig zu Papier gebracht habe. Ich habe die Geste des Mannes damals sehr wohl verstanden. Und sicherheitshalber nie wieder etwas gesagt. Kein Wort. Mein Leben lang. All die Fragen blieben unbeantwortet.
Doch nun bleibt mir nicht mehr viel Zeit, daher ist es ohnehin egal. Hin und wieder sehe ich ihn im Traum. Er droht mir. Er sagt mir, er würde wissen, was ich tue. Jede Sekunde. Doch obwohl ich mit diesen Träumen mittlerweile seit 56 Jahren lebe, weiß ich nicht, ob sie real sind, oder nur eine Ausgeburt meines zerrütteten Verstandes. Vielleicht holt er mich bereits, während ich das hier schreibe und keiner wird meine Zeilen je zu Gesicht bekommen.
Wir waren gerade acht Jahre alt. Das habe ich bereits geschrieben. Mein Zwillingsbruder, Tobi, und ich, hatten ein gemeinsames Zimmer unter dem Dach. Ich kann mich noch an das knarrende Parkett und das Sprossenfenster erinnern, in dessen Morgenlicht die Staubkörner tanzten. Vor dem Fenster stand eine große Truhe, in der Klamotten aufbewahrt wurden, welche gerade nicht in Gebrauch waren. Auf der Truhe hatten wir uns eine kleine Kissenburg errichtet, von wo aus wir eine wunderbare Sicht über die Nachbarschaft hatten. Wenn wir dort saßen, lag vor uns der Garten mit den Gemüsebeeten, der zu unserem Haus gehörte. Hinter einem Holzzaun lag das Grundstück unseres Nachbarn Lothar Carstensen. Wir fanden diesen Garten schon immer spannend. Während in den Beeten unserer Eltern jede Pflanze ihren Platz hatte und regelmäßig zurechtgestutzt wurde, wucherte bei Herrn Carstensen alles wild durcheinander. Zwei knorrige Kirschbäume, die niemals blühten, erstreckten ihre Zweige über moosigen Untergrund und Brombeersträucher. Sie können sich sicher denken, welche Fantasien ein solcher Garten in einem Kinderkopf auslöst. Aber sie haben vermutlich keine Ahnung, dass solche Hirngespinte Wirklichkeit werden könnten.
Tobi und ich spielten also jeden Tag unten im Garten und bekamen alles mit, was in der Nachbarschaft vor sich ging. Wir beobachteten Herrn Carstensen, wie er alle paar Tage mit seinem Auto vorfuhr und riesige Einkaufstüten in das Haus trug. Dabei lebte er alleine. Es war uns ein Rätsel, wie er die ganzen Nahrungsmittel aufbrauchte. Besonders fielen uns die großen Tüten der Metzgerei Bergat auf, die stets prall gefüllt waren. Einige Minuten, nachdem die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, ging jedes Mal das Licht unten im Keller an. Die naheliegende Erklärung wäre natürlich, dass er dort unten eine Kühltruhe hatte, in der er das Fleisch aufbewahrte. Doch wenige Sekunden, nachdem der Lichtschein das Kellerfester erleuchtete, hörten wir ein Rumpeln und Quietschen, das nicht zu den Geräuschen einer sich öffnenden Kühltruhe passen wollte. Wie Detektive, die einem Verbrecher auf der Spur waren, beobachteten wir das Schauspiel Tag für Tag, ohne der Lösung einen Schritt näher zu kommen.
„Das ist unser Geheimnis", sagte Tobi zu mir. „Eltern mischen sich nur ein. Aber das ist unser Fall." Ich hielt mich daran.

Dann begannen die langen Nächte auf der Truhe vor unserem Dachfenster. Wir wechselten uns ab. Erst beobachtete Tobi das Vorgehen, dann weckte er mich nach zwei Stunden und ich war an der Reihe. Irgendwann nach Mitternacht schliefen wir dann jedoch meistens ein. Tagsüber waren wir oft müde. Aber wir erzählten jedem Erwachsenen, der es hören wollte, wie viel wir abends noch für die Schule gelernt hatten. Damit waren sie meistens zufrieden.
Lange geschah nichts. Doch eines Abends war ich zu aufgeregt zum Schlafen und beschloss, meine eigene erste Wache einfach zu verlängern. Ich sah hinauf in die Sterne und brütete über die Schule und die bevorstehende Klassenfahrt, als sich in dem Haus gegenüber etwas regte. Im Erdgeschoss ging das Licht an. Ich schaute auf die Uhr. Es war 2:25 Uhr. Wer stand schon um diese Zeit auf? Schnell weckte ich Tobi, der sich schlaftrunken neben mich auf die Truhe setzte. Gebannt starrten wir auf das Nachbarhaus und beobachteten, was weiter geschah. Das Licht im Keller leuchtete auf. Mein Herz begann zu rasen. Ich wusste, dass irgendetwas passieren würde. Nach nur einer Minute wurde das Fenster wieder dunkel. Dafür tauchte Carstensens Silhouette im Erdgeschoss auf. Er bewegte sich in Richtung Haustür. Ein schmaler Streifen Licht fiel hinaus auf die Treppen und den Rasen, als er sie öffnete. Doch da war nicht länger nur der Umriss unseres Nachbarn. Etwas stand neben ihm. Kleiner. Sie traten hinaus. Herr Carstensen führte ein Tier an der Leine. Es sah aus wie ein deformierter, riesiger Hund. Die Beine waren irgendwie zu lang und knorrig, die Schulterblätter ragten spitz über die Wirbelsäule hinaus. Viel mehr konnten wir von unserem Observationsposten aus nicht erkennen.
Carstensen verließ mit dem Tier seinen Garten und spazierte mit ihm die Straße entlang. Tobi und ich pressten unsere Gesichter an die Scheibe, um ihn noch möglichst lange beobachten zu können.
Als er aus unserem Blickfeld verschwand, sahen wir uns aufgeregt an. Ich hatte eine Gänsehaut und auch mein Bruder zitterte am ganzen Leib.
„Was war das?", fragte er.
„Ich habe keine Ahnung. Ein Hund?"
„So sah es eher nicht aus. Er hatte einen komischen Rücken. Ungefähr so." Tobi zog seine Schultern nach oben und machte dabei eine komische Grimasse, die sein Gesicht in die Länge zog. Ich musste lachen.
„Ja, genau. Du siehst schon fast so ekelhaft aus wie das Vieh."
Daraufhin begann auch Tobi zu grinsen. Und trotzdem war mir nicht wohl bei der Sache.
„Vielleicht sollten wir es unseren Eltern sagen?"
Mein Bruder runzelte die Stirn. „Wir hatten doch gesagt, dass das unser Geheimnis bleibt. Außerdem würden sie uns bestimmt nicht glauben."
„Aber er hat da ein komisches Ungeheuer im Keller. Denkst du nicht, das ist gefährlich?"
„Hast du etwa Angst?"
Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden. „Nein, so ein Quatsch."
„Na also, dann können wir den Schulterhund ja für uns behalten." Mit seinem verschwörerischen Grinsen, das mich bisher noch zu jedem Streich überzeugen konnte, blickte er mich an. Ich konnte nicht anders: „Also gut. Ja."
„Super!"
In den folgenden zwei Stunden schmiedeten wir Pläne, wie wir Genaueres über den Schulterhund erfahren konnten.

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