Die Melodie - Teil 2

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In den nächsten Wochen schlug ich bei meinem Spaziergang einen anderen Weg ein. Ich versuchte tatsächlich zu vergessen, dass es diesen Mann gab. Doch die wunderbare Erinnerung schlich sich immer wieder in meinen Kopf. Das Verlangen, ihn wieder zu hören, diese Welten wieder zu sehen, wurde mit der Zeit immer stärker. Aber ich traute mich nicht mehr, mich einfach auf den Waldweg zu setzen, wo er mich jederzeit sehen könnte, wenn er sich umdrehte.

Irgendwann kam mir die Idee, tagsüber einen anderen Weg zu dem See zu suchen. Vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit, seiner Melodie in Ruhe zu lauschen. Seine Warnungen, mich von ihm fern zu halten, hatte ich bereits gut verdrängt. Ich schlug also einen anderen Weg ein, der in einiger Entfernung auf der anderen Seite des Sees verlief. Von dort aus versuchte ich mein Glück und wurde fündig. Einige Male wurde ich von dichtem Gebüsch und steilen Hängen aufgehalten. Bei Tag hätte ich sie vielleicht überwinden können. Aber mir war nicht wohl bei dem Gedanken, abends, im Halbdunkel, einen Abhang mit jeder Menge Wurzeln hinab steigen zu müssen. Doch dann fand ich eine Strecke, die größtenteils eben und gut zu bewältigen war.

Mein neues Versteck lag der Stelle, an der er immer stand und sang schräg gegenüber. Im Stehen hatte ich einen guten Blick auf den See. Wenn ich mich hinsetzte, verbarg mich ein Gebüsch vor seinen Blicken. Es waren mittlerweile zwei Monate vergangen, seit ich ihn das letzte Mal hatte singen hören und hoffte sehr, dass er seine Gewohnheiten nicht geändert hatte. Zwei Abende hatte ich bereits in meinem Versteck verbracht, ohne, dass er aufgetaucht war. Doch am dritten Abend hatte ich Glück. Ich hatte nicht gehört, wie er an den See getreten war, doch auf einmal vernahm ich wieder seine Stimme. Sofort machte sich Erleichterung in mir breit. Bevor ich mich treiben ließ, wollte ich einen kurzen Blick auf ihn werfen. Ich hatte ihn bisher nur von hinten gesehen. Doch ich war neugierig, wie dieser schmächtige Mann von vorne wirkte, wenn er sang. Vorsichtig blickte ich über den Rand des Gebüsches. Ich konnte ihn sehen. Er blickte konzentriert auf die Wasseroberfläche. Doch von hier aus konnte ich nicht sehen, was er so fasziniert betrachtete. Ich hätte zu weit aufstehen müssen, um den See zu sehen. Also krabbelte ich an dem Gebüsch entlang, auf der Suche nach einer Lücke. Ich fand eine Stelle, an der es nicht so dicht war und bog die Äste vorsichtig auseinander. Ich musste mich hin knien und mich ein Stück nach vorne ins Gebüsch lehnen, um gut zu sehen. Jetzt konnte ich die Mitte des Sees erkennen, dahinter immer noch den Mann. Er wiegte sich zu seiner eigenen Musik hin und her. Der Gesang stieg nun wieder langsam an. Da beobachtete ich etwas Seltsames. Zuerst dachte ich, ich hätte mich getäuscht. Doch die Oberfläche des Sees begann sich immer mehr zu kräuseln. Leichte Wellen schwappten immer stärker werdend hin und her. An einigen Stellen bildete sich Schaum. Dann, von einer Sekunde auf die nächste, lag die Oberfläche spiegelglatt da. Über all dem schwebte der mystische Klang der Melodie, die mir mittlerweile trotz ihrer Andersartigkeit so vertraut war. Daran, die Augen zu schließen wie sonst, war nicht mehr zu denken. Wie gebannt starrte ich auf die Oberfläche des Sees. Ich hatte Angst, war aber gleichzeitig unfähig, mich zu bewegen. Unscharf, dann immer deutlicher begann ein Bild zu entstehen. Anfangs konnte ich nichts als wirre Umrisse erkennen. Doch dann wurden sie immer deutlicher. Das erste was ich erkannte, war eine Höhle. In der Mitte befand sich ein Gegenstand. Eine Liege. Wie ein Liegestuhl, nur aus massivem Stein und mit Stoffpolstern. Darauf lag etwas. Nein. Nicht etwas. Jemand. Es war ein großes, rundliches Wesen. Auf eine seltsame Weise wirkte es niedlich. Es hatte Fell am ganzen Körper. Seine Augen waren geschlossen und es schien zu lächeln. Kurz schloss ich die Augen und schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht sein. Das bildete ich mir ein. Wie die Bilder, die ich sonst in meinem Kopf sag. Doch als ich meine Augen wieder öffnete, war das Bild immer noch da. Das Wesen, was auch immer es war, schien zu schlafen. Wie der Mann, so wiegte sich auch das Wesen zur Musik sanft hin und her. Es war, als ob er ein Schlaflied für das Wesen singen würde. Fasziniert beobachtete ich das Geschehen. Mit der Zeit schliefen meine Beine ein. Die Haltung, in welcher ich seit einiger Zeit verharrte, wurde langsam unbequem. Vorsichtig, versuchte ich, mich etwas aufzurichten. Doch dabei verlor ich das Gleichgewicht. Ich versuchte am Gebüsch Halt zu finden. Doch die Äste gaben nach und so fiel ich vornüber durch das Gebüsch hindurch. Einen Schrei konnte ich gerade noch unterdrücken. Als ich meinen Kopf hob, um zu sehen, ob ich bemerkt worden war, sah ich, dass das Wesen auf dem Liegestuhl seine Augen geöffnet hatte und sich umblickte. Der Mann war näher an den See getreten und sang nun sehr energisch. Kurz blickte er zu mir hinüber. Er wirkte panisch. Die Melodie hatte nun etwas Eindringliches, Gehetztes. Als ich wieder zum See blickte, blieb mir beinahe das Herz stehen. Das Wesen hatte seinen Kopf gedreht und blickte mich durch die Oberfläche an. Es starrte direkt in meine Richtung. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und meine Hände begannen zu schwitzen. Dann, ruckartig drehte es sich um. Es blickte nun genau auf die Mitte des Sees und lief auf die Oberfläche zu. Es streckte seinen rechten Arm aus. An seinen Pfoten befanden sich Krallen. Eine dieser Krallen streckte es der Oberfläche entgegen. Wie in einem Film, wenn jemand nach der Kamera griff. Und dann zerschnitt es mit einer seiner Krallen die Oberfläche, als würde es eine Leinwand durchtrennen. Das Geräusch ging mir durch Mark und Bein. Ähnlich wie das Quietschen einer Kreide auf der Tafel. Ungläubig beobachtete ich das Geschehen. Immer noch unfähig, mich zu rühren. Erst kam eine Kralle zum Vorschein, dann beide Oberarme. Schließlich begann sich der Kopf aus dem See zu erheben. Dann die Augen, die zunächst mich anblickten und sich dann zu dem Mann wandten. Sie waren grün und sahen wütend aus. Als der Blick des Monsters auf den Mann fiel, hörte er auf zu singen. In dem Moment bekam ich die Kontrolle über meinen Körper wieder. Ich stand auf, drehte mich um und rannte. Äste schlugen mir ins Gesicht und Wurzeln scheuerten mir die Schienbeine auf. Wenige Sekunden später hörte ich einen markerschütternden Schrei und ein furchtbares, reißendes Geräusch, das ich nicht einordnen konnte. Ich versuchte, schneller zu rennen. Das Knacken, das ich dann vernahm, ließ vor meinem Auge Bilder von splitternden Knochen entstehen. Immer noch begleitet, von dem furchtbaren Schmerzensschrei. Dann, plötzlich, war da Stille. Ich rannte weiter. Das Einzige, was ich nun hörte, waren das Rauschen meines Blutes in meinem Kopf und mein Herzschlag. Ich rannte und rannte. Als ich daheim ankam brannte meine Lunge und meine Beine schmerzten. Im Gesicht hatte ich jede Menge Kratzer. Ich schloss die Wohnungstür ab und schob meine schwere Kommode davor. Die Vorhänge zog ich zu. In dieser Nacht schlief ich nicht. Wie ein gehetztes Tier lief ich in der Wohnung auf und ab. Unschlüssig, was ich tun sollte. Ich fühlte mich beobachtet und bei jedem kleinen Geräusch erschrak ich zu Tode. Immer wieder schob ich vorsichtig den Vorhang auf und blickte auf die Straße. Sie lag da wie ausgestorben. Kein Monster mit Krallen, das mich verfolgte. Doch die Angst ist seit dem immer da. Auch jetzt noch. Jahre später.

Kurzgeschichten - schräg und kurzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt