Weich und klebrig

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Der Geländewagen schaukelte im unregelmäßigen Rhythmus über die Wurzeln und Steine des unebenen Waldweges. Hin und wieder schlug sie sich ihre Schultern und Knie an dem Metall des Autos an. Sie fuhren nun schon seit guten zwei Stunden durch das Unterholz des Dschungels. Die Luft war warm und schwül und roch nach Regen. Sarah war das erste Mal im Dschungel und sie war sich nicht sicher, worauf sie sich hier eingelassen hatte. Die Welt um sie herum war faszinierend. Einen so dichten Wald kannte sie aus ihrer Heimat Deutschland nicht. Die Bäume waren höher, das Grün wirkte saftiger und die Geräuschkulisse war schlichtweg atemberaubend. Überall knisterte, zirpte und schrie es. Es war kaum auszumachen, wo ein Baum endete und ein anderer anfing. Sie schienen irgendwie ineinander über zu gehen. Die Abgeschiedenheit dieses Ortes machte ihr Angst. Schon länger waren sie keinem anderen Menschen mehr begegnet. Das war genau das, was ihr Mann Andrew an diesem Ort so liebte. Die Ruhe, nichts außer Natur um einen herum. Seit drei Jahren waren sie nun bereits zusammen, aber diesen Sommer hatte er Sarah das erste Mal überzeugen können, ihn zu begleiten. Sie fuhren auf einem Weg, der eigentlich nur aus zwei braunen Rillen in der Erde bestand. Immer wieder schlugen Äste gegen die Windschutzscheibe. Sarah konnte es langsam kaum erwarten, endlich bei den Bungalows anzukommen, in welchen sie die nächsten Wochen verbringen wollten. Langsam wurde die holprige Fahrt in den ungewohnten Klima doch anstrengend. Normalerweise wurden Besucher von einem Reisebegleiter zu dem Quartier gebracht. Doch Andrew kannte die Strecke seit Jahren und liebte die Fahrt durch den Wald, weshalb er bereits seit einigen Jahren die Strecke alleine fuhr. Trotzdem bekam Sarah es jedes Mal mit der Angst zu tun, wenn sie an einer der wenigen Kreuzungen das Gefühl hatte, er würde zögern. Immer wieder hatte sie schreckliche Bilder im Kopf. Wie sie auf ein Mal vom Weg abrutschten, einen Abhang hinunter direkt in einen Flusslauf mit Krokodilen. Oder wie sie plötzlich nicht mehr weiter kamen, weil vor ihnen ein Baum umgestürzt war, woraufhin ihr Auto in der Nacht von hungrigen Tigern umkreist und angesprungen wurde. Oder wie sie von einem Moskito gestochen und an Malaria erkrankten, orientierungslos und meilenweit vom nächsten Krankenhaus entfernt.

Ziemlich unerwartet teilte sich der Wald um sie herum und über ihnen lichtete sich das Blätterdach. Sie standen auf einmal auf einer Lichtung, an deren Rand mehrere kleine Hütten aus Holz aufgebaut waren. In der Mitte der Lichtung befand sich ein Grillplatz mit einer Feuerstelle und Holzbänken, welche im Kreis darum aufgestellt waren. Das Auto hielt an und das Geräusch des Motors erstarb. Erleichtert atmete Sarah durch. Drei Männer in sandfarbener, weiter Kleidung kamen auf sie zu. Sie waren braun gebrannt und grinsten sie bereits von weitem an. „Andrew, schön, dass du da bist. Und das muss die bezaubernde Sarah sein". Alle drei reichten ihr einer nach dem anderen die Hand und machten sich sofort an ihrem Gepäck zu schaffen. „Kommt mit, ihr habt den Bungalow am Waldrand, wie gewünscht". Andrew und Sarah stiegen aus und folgten den dreien in Richtung der Bungalows. Die Männer waren braun gebrannt von dem sonnigen Wetter, hatten sich anscheinend seit einigen Tagen nicht mehr rasiert und sahen aus, wie die Urwaldforscher, die sie in den vielen Reportagen im Fernsehen gesehen hatte. Einer hatte sogar so einen Urwaldhut auf, den eigentlich sonst keiner auf der Welt trug, außer einem Professor im mittleren Alter, der seine Zeit mit der Erforschung von Insekten im Dschungel verbrachte. Die Hütte, zu welcher die Männer sie führten war einfach, aber gemütlich eingerichtet. Es stand ein Doppelbett darin, ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und ein sehr einfacher Kleiderschrank, in dem es nur eine einzelne Stange gab, an der drei Bügel hingen. Um das Bett herum hing ein weißes Netz. Andrew hatte sie bereits darauf vorbereitet, dass sie über Nacht in einem Bettnetz würden schlafen müssen um sich vor Moskitos zu schützen. Eigentlich sah es ganz nett aus, wie die Prinzessinnenvorhänge an Kinderbetten. Kaum hatte sie ihre Tasche abgesetzt, rief einer der Männer nach ihnen. „Andrew, Sarah, kommt raus, das Barbecue ist eröffnet."

In der Nacht erwachte Sarah von einem lauten Schrei. Erschrocken fuhr sie auf und blickte sich um. Da war es schon wieder. Ein einzelner, lauter Schrei. Sie blickte zu Andrew, doch der schlief seelenruhig weiter. Er war die Geräuschkulisse dieses Urwaldes schon seit Jahren gewohnt. Auch beim Abendessen, als alle gemütlich ums Feuer saßen, hatte sie sich das ein oder andere Mal vor plötzlichen Geräuschen erschreckt, oder war bei einem Knacken im nahen Gebüsch zusammengezuckt. Aber die Männer hatten nur gelacht. Sie konnten jeden Schrei einer Affenart zuordnen und gut erklären, warum das Knacken im Unterholz wohl nicht von einem angriffslustigen Tiger stammte. Sie legte sich wieder hin und versuchte einzuschlafen. Aber sie war hellwach. Nach wenigen Minuten stand sie auf und ging zum Fenster. Von hier aus konnte sie die kleine Lücke im sonst so dichten Urwald erkennen. Von dort ging ein kleiner Trampelpfad los. Er führte in einem Halbkreis um das Camp und endete auf dem Weg, den sie mit dem Jeep gekommen waren. Das war der einzige Weg hier, den Besucher alleine gehen durften. Sie war ihn am Abend mit Andrew gegangen. Weiter in den Dschungel durfte man sonst nur in Begleitung. Nicht, weil dort so gefährliche Tiere waren, sondern weil man sich alleine vermutlich hoffnungslos verlaufen würde. Einen Moment zögerte sie, griff dann doch nach der Stirnlampe, ihrer langen Hose und den Schuhen. Dann trat sie hinaus in die angenehme Nachtluft. In zehn Minuten würde sie wieder da sein. Daheim halfen ihr solche Spaziergänge auch beim Einschlafen.

Der kleine Spaziergang verfehlte seine Wirkung nicht. Als sie ein paar Minuten gegangen war, musste sie gähnen. Die Nachtluft und die Bewegung machten sie tatsächlich etwas müde. Diese Runde war perfekt, demnächst würde sie auf dem breiteren Weg zurück laufen und dann glücklich und müde in ihr Bett fallen. Schon begann sie sich etwas nach dem weichen Bett zu sehnen. Hinter jeder kleinen Biegung rechnete sie damit, auf den Weg zu treten und von dort aus bereits die Fackeln des Camps zu sehen. Aber der Weg kam nicht. Komisch. Hätte sie nicht längst schon dort sein müssen? Die zehn Minuten mussten doch bereits vorbei sein. Sie blieb stehen und blickte zurück. Verpasst haben konnte sie den Weg eigentlich noch nicht. Die beiden Fahrrinnen waren auffällig genug. Aber bei Nacht? Sie schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Der Weg würde bestimmt bald kommen. Doch auch nach weiteren Minuten war er nicht in Sicht. Langsam wurde sie unruhig. Sie überlegte, ob sie umkehren sollte. Hatte sie bereits im Camp den falschen Pfad genommen? Das musste es sein! Eine Abzweigung hatte sie nicht gesehen. Wenn sie diesem Pfad hier zurück folgte, sollte sie also wieder im Camp ankommen. Wieder etwas ruhiger, begann sie den Weg zurück zu laufen. Ein Gefühl für die Zeit hatte sie nun nicht mehr. Sie schätzte zwar, dass sie gut 15 oder 20 Minuten gelaufen war, aber es hätten genauso gut auch schon mehr sein können. Sie versuchte, Dinge von ihrem Spaziergang am Abend wieder zu erkennen. Aber die Umgebung kam ihr jetzt seltsam fremd vor. Sie war sich nicht mal sicher, ob das der Weg war, auf dem sie gerade eben her gelaufen war. Aber wahrscheinlich spielte ihr Verstand ihr einfach einen Streich. Dann, plötzlich, hörte sie ein lautes Knacken hinter sich. Sie drehte sich um. Das Licht ihrer Stirnlampe wurde von zwei bernsteinfarbenen Augen reflektiert. Genau hinter ihr, auf dem Weg. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie warf sich herum und begann zu rennen. Immer dem Pfad folgend. Äste peitschten ihr ins Gesicht und zerkratzten ihre Arme. Im Rennen versuchte sie einen Blick nach hinten zu werfen. Aber sie sah nur vorbei fliegende Äste. Dann rannte sie gegen etwas Weiches. Es gab nach und federte so ihren Aufprall ab. Verdutzt, versuchte sie sich umzusehen. Doch es ging nicht. Sie hing fest. Mit dem Bauch voraus und ihrer rechten Wange klebte sie anscheinend an etwas. Sie brauchte einige Sekunden, ehe sie begriff. Ein riesiges Spinnennetz. Ekelerregt, versuchte sie sich loszureißen. Doch dabei verhedderte sie sich nur noch mehr in den weißen, weichen, klebrigen Fasern. Sie schrie aus Verzweiflung. Tränen rannen ihr über die Wangen. Dann unterbrach ein Knacken ihr hoffnungsloses Zerren und Reißen. Aus den Augenwinkeln sah sie etwas Großes um sie herumschleichen. Sie erstarrte. Der Tiger von vorhin erschien immer wieder in ihrem Blickfeld, drehte um und verschwand für einige Sekunden, bevor er wieder auftauchte. Die Erkenntnis stand auf einmal mit einer erschreckenden Klarheit vor ihr. Sie hing in einem überdimensionalen Spinnennetz fest. Ein Tiger umkreiste sie. Mit einem Mal begann das Gebilde, an dem sie hing zu schwanken. Zunächst begann es als seichtes Vibrieren, dann wurde es immer stärker. Der Tiger, der gerade wieder in ihr Blickfeld getreten war, verharrte für eine Sekunde und verschwand dann mit einem Satz im dichten Wald. Sarah begann zu zittern. Der Schweiß lief ihr kalt den Rücken hinunter, als über ihr ein großer, runder, haariger Körper erschien. Bisher war sie davon ausgegangen, in einem Netz zu hängen, das von hunderten Spinnen zugleich gewoben wurde. Doch anscheinend hatte sie sich getäuscht. Dieses Netz gehörte nur einer Spinne. Sie begann zu wimmern, als eine der Borsten, mit welchen die Beine der Spinne übersät waren, ihren Kopf streifte. Noch einmal versuchte sie verzweifelt, sich loszureißen. Sie schrie um Hilfe, obwohl sie wenig Hoffnung hatte, dass sie jemand hören konnte. Dann spürte sie die haarigen Beine nach ihr tasten. Sie fühlten sich kratzig an auf ihrer Haut. Dann war da noch mehr klebrige Masse, die sich um sie legte. Um ihre Arme, ihre Beine und ihr Gesicht. Ihr wurde schlecht. Sie schrie auf, als sie einen stechenden Schmerz in ihrem Rücken spürte. Die Beißwerkzeuge der Spinne bohrten sich unter ihr rechtes Schulterblatt. Ein heißer Schmerz schoss durch ihren gesamten Körper. Gefolgt von wohliger Wärme. Die Wärme vertrieb den Schmerz und die Angst. Langsam, ganz langsam entspannte sie sich. Ließ sich fallen in die weichen Fasern, die sie auffingen und schützend umhüllten. Ihre Augen fielen zu. Immer mehr Lagen dieser weichen, kuscheligen Masse deckten sie zu. Es war schön, so ruhig. Wie nach einem langen Spaziergang ins Bett fallen. Weich und klebrig. Wahrscheinlich nur ein Traum. Das waren ihre letzten Gedanken, bevor das Gift ihren Körper endgültig erschlaffen ließ.

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