Kapitel 10

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Langsam öffnete sie den Mund und Hannah konnte zwei leise Wörter verstehen. Gefahr. Bald.

Sie war in Gefahr? In Gefahr! Aber was meinte ihre Uroma damit? Und was genau meinte sie mit bald? Noch heute? Morgen? Oder dann, wenn Hannah das Gen hatte?

Wieder lief es ihr warm den Rücken hinunter. Es war der totale Gegensatz zu den kalten Schauern, die sie außerhalb vom Garten spürte. Ein leises Flüstern war zu hören und Hannah schaute wieder auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Hände angestarrt hatte.

Such das Memorial, Hannah. Informiere dich über Zukunftsreisen, dann wirst du verstehen, warum...

Weiter kam ihre Uroma nicht, da der Wind auffrischte und die Person die Hannah gesehen hatte, war von einem Augenblick auf den anderen verschwunden. Wie als hätte jemand über ihr einen Eimer voll mit kaltem Wasser ausgeschüttet, kam die Realität mit einem Schlag zurück. Die Zeit lief nicht mehr in Zeitlupe und der Wind ließ sie frösteln. Als hätte jemand ihr Ziegelsteine auf die Schultern gelegt, war auf einmal das Gewicht auf Hannahs Schultern zu groß und ihre Knie gaben unter ihr nach.

Ihr Dad hatte die Veränderung sofort bemerkt und fing sie auf. Hannah schloss ihre Augen und ließ sich von ihrem Dad auf Mikes Bett legen. Dort öffnete sie sie wieder und jetzt erst bemerkte sie, dass Mike, ihr süßer, kleiner Bruder, nicht mehr schlief, sondern Mom umklammerte. Sie standen neben dem bereits geschlossenem Fenster. Furcht lag in seinen Augen – Furcht vor ihr. Dieser Gedanke machte Hannah das Herz so schwer. Gerade noch so konnte sie sich ein tiefes Schluchzen verdrücken. Dass ihre Augen sich aber mit Tränen füllten, konnte sie nicht verhindern. Ihr kleiner Bruder hatte Angst vor ihr. Angst vor seiner Schwester. Nein, nein, nein! Niedergeschlagen schloss sie die Augen wieder, doch dann fuhr sie hoch. Ihre Uroma! Sie war da gewesen! Als 25 Jahre alte Frau.

»Mom! « Ihre Mom löste sich aus der Umklammerung und kam zum Bett. »Ja Hannah? « »Mom, ich...« Doch ihre Mom ließ sie nicht aussprechen und hielt ihr den Finger vor den Mund. Sie schaute auf die Seite zu Mike und Dad und sofort verstand Hannah ihre Mom. Sie sollten nichts davon wissen. Naja, nicht noch mehr.

Hannah schüttelte ihren Kopf und hüpfte aus dem Bett. »Das war gerade komisch. « Sie lachte und versuchte das Geschehene zu vertuschen und vergessen zu machen. Sie stoppte kurz vor ihrem Bruder, doch als dieser zurück wich, ging sie geradewegs in ihr Zimmer und ließ hinter ihr die Tür zuschlagen. Sie hatte nicht einmal mehr die Zeit, sich mit dem Bauch auf das Bett zu werfen und die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, als es schon an ihrer Türe klopfte. Ihre Mom kam herein. »Hannah? Stopp, bleib hier! Ich muss mit dir reden. Jetzt. « Sie nahm Hannah in die Arme und gemeinsam setzten sie sich auf ihr Bett. Es kam Hannah vor wie ein Déjà-vu, nur dieses Mal umgedreht. Dieses Mal weinte sie und ihre Mom versuchte, aus ihr schlau zu werden. »Hannah, bitte, erzähl, was ist da vorhin passiert? Wieso hast du dich so komisch vorm Fenster verhalten? Es gibt für mich irgendwie keinen Sinn, und dabei bin ich so einiges gewöhnt. « Die Stirn ihrer Mom kräuselte sich. Hannah versuchte sich zu beruhigen und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Ich wollte alle Vorhänge zu machen, wie du's mir gesagt hast. Aber als ich dann in Mikes Zimmer den Vorhang schließen wollte, sah ich einen Schatten der sich aus dem Dunkeln löste und auf mich zukam. « »Und da hast du dann geschrien? « »Ja, ich hatte Angst, dass das jemand ist, der mich umbringen wollte. Doch dann hat sie ihre Kapuze runter getan. « »Sie? Wie meinst du das, Hannah? « »Mit sie meine ich Uroma. Sie war diese Person. Nur war Uroma sehr jung, vielleicht 25? « Nach diesem Satz setzte sich ihre Mom gerade hin und schaute in die Ferne. Hannah konnte nichts auf ihrem Gesicht erkennen. Plötzlich drehte sie sich wieder zu Hannah um. »Weiter, was ist dann passiert? Hat sie dir irgendetwas erzählt? «

»Ja, hat sie. Aber hast du es denn nicht auch gehört, Mom? « »Hannah, wir alle haben nichts gehört oder gesehen! Wir haben nur dich gesehen, wie du dich sehr merkwürdig verhalten hast. « »Oh... « Hannah war sprachlos. Nur sie konnte ihre Uroma sehen? Oh. Jetzt verstand sie auch, wieso Mike sie so komisch angeschaut hatte. Er dachte bestimmt, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmte. »Uroma schaute aus wie ich. Sie hat mir gesagt, dass ich in Gefahr bin und zwar bald. Und das ich im Memorial über Zukunftsreisen nachschauen soll. Das war's. « Bei dem Wort Gefahr entglitten Hannahs Mom alle Gesichtszüge. Sie schaute traurig und gebrochen aus. So sehr, dass es Hannah im Herz weh tat. Sie wartet darauf, dass ihre Mom irgendetwas sagte, doch sie blieb stumm. Schließlich brach Hannah das Schweigen. »Mom? Was ist jetzt mit Mike und Dad? Wissen sie jetzt Bescheid? Über mich? « Ihre Mom schüttelte den Kopf. »Nein, Mike weiß nicht Bescheid. Ich habe ihm erzählt, dass es dir nicht so gut ging und du frische Luft wolltest. Er hat zum Glück nicht allzu viel mitbekommen. Was mit Patrick ist, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wie viel er mitbekommen hat. Ich hasse es so sehr, ihn anzulügen. Aber was soll ich denn machen? « Mike wusste nichts. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Aber Dad... »Sag es ihm. Vielleicht ist das sogar das Beste. « Ihre Mom nickte leicht mit dem Kopf und stand dann auf. Hannah lief ihr hinterher. »Mom? « »Ich werd's mir überlegen, mein Schatz. Okay? « »Okay. Du, Mom? Warum ich eigentlich zu dir wollte. Kann ich morgen nach der Schule zu Victor? Wir wollten über... über alles reden, vielleicht kann er mir ja helfen, endlich Antworten zu finden! « »Ist okay, meine Große, du darfst natürlich. « Hannah nickte ihrer Mom zu und verschwand wieder in ihrem Zimmer. Dort sagte sie sofort Victor zu, und Victor schrieb sofort zurück, dass er sich schon darauf freue. Doch Hannah hatte gerade zu viel im Kopf, so dass sie sich darüber nicht auch noch Gedanken machte. Sie schmiss ihr Handy auf ihren Schreibtisch und schimpfte vor sich hin. Wieso musste das alles ihr passieren? Es war doch alles gut so wie es gewesen ist. Und jetzt? Alles änderte sich: Ihr ganzes Leben, ihr Verhältnis zu ihrer Familie, und vielleicht auch noch ihr Zuhause. Es wurde ihr alles zu viel. Einfach zu viel. Sie konnte nicht mehr. Zu viel.

Langsam ging sie wieder aus ihrem Zimmer. Der Flur lag jetzt im Dunkeln, doch in Mikes Zimmer brannte noch Licht; er war also noch wach. Sie musste es jetzt noch klären, sonst konnte sie nicht schlafen. Gerade wollte sie die Türklinke hinunter drücken, doch irgendetwas hinderte sie daran. Es war ein Gefühl in ihr. Angst. Angst, was jetzt kommen würde, wie ihr Bruder reagieren würde. Sie hatte ihn so lieb, sie durfte ihn nicht verlieren! Nicht wegen diesem Fluch. Sie zuckte zusammen, als hätte sie sich an ihrem eigenen Gedanken verbrannt. Fluch. Es war das erste Mal, dass sie ihre Gabe selbst als Fluch bezeichnet hatte. Nein, sie wollte ihre Gabe nicht so nennen, denn dann würde sie zugeben, dass sie sich vor ihr fürchtete. Doch die Gabe war in ihr verankert, und so würde sie sich vor ihr selbst fürchten. Und das wollte sie nicht. Das ließ sie nicht zu.

»Mike? Bist du da? « »Hannah? « Leise hörte sie die Stimme ihres Bruders. »Ja. Kann...kann ich rein kommen? « Stille. Nichts. »Mike?Hallo? « Es blieb so still wie vorhin. Dann hörte sie, wie etwas auf seinem Boden aufkam – wahrscheinlich ist er gerade aus seinem Bett gesprungen. Danach war wieder Stille. Doch kurz darauf konnte Hannah hören, wie er leise und langsam zur Türe kam. Vorsichtig öffnete sie sich einen Spalt und Hannah konnte Mikes Kopf erkennen. Er traute sich nicht, die Türe ganz zu öffnen, nicht, dass sie wieder so gruselig war. »Was willst du Hannah? Geh bitte weg! « Gerade wollte er die Tür vor ihrer Nase zuschlagen, doch Hannah hielt ihn davon ab. »Stopp, Mike. Sieh mich an. Bitte. « Er gab nach und schaute ängstlich hoch. »Mike, du brauchst doch keine Angst vor mir haben, ich bin doch immer noch deine Schwester! Hier, ganz normal, wie immer. « Sie nahm Mikes Hand in ihre, doch Mike entriss sich ihr. Er wollte es nicht. »Nein, Hannah, du bist gruselig! Du...du warst so furchteinflößend am Fenster! Wie du deine Hände so hoch gehoben hast! «Er bekam ganz große Augen, als würde er sich gerade wieder daran erinnern. »Was soll ich tun? Wie kann ich dir beweisen, dass du nicht Angst vor mir haben musst? « Hannahs Stimme klang verzweifelt, sie brauchte doch ihren Bruder. »Mike, ich brauch dich doch! Du bist mein kleiner Bruder! « Mike starrte sie nur an, seine Lippen hatten sich zu einem Strich verformt. Es schaute aus, als ob er gerade einen inneren Kampf mit sich führte.

Dann presste er seine Augen zu und öffnete seine Türe ganz. Völlig unerwartet schmiss er sich in Hannahs Arme und fing an zu schluchzen. »Hannah, ich hatte solche Angst! Ich dachte du wärst besessen oder...ach keine Ahnung! Ich hatte solche Angst um dich! Bitte mach das nie, nie, nie mehr wieder! « »Schhhh, Mike, es ist alles gut. Mir geht's gut. Schhhh. « Sie wischte ihm die Tränen von der Wange und hob ihn dann hoch. Er ließ sich von Hannah auf sein Bett tragen und kuschelte sich dann unter seine Decke. Hannah setzte sich auf den Rand vom Bett und strich ihm seine kleine Mähne aus dem Gesicht. »Es ist alles gut, Mike. Ich bin immer für dich da, okay? Du brauchst keine Angst haben. « Mike nickte und drehte sich dann auf die Seite. Hannah blieb noch lange bei ihm sitzen. Schon nach kurzer Zeit war Mike eingeschlafen, doch sie war geblieben. Sein Atem ging wieder ruhig. Es tat ihr so leid, dass ihr Bruder Angst gehabt hatte. Aber warum musste ihre Uroma genau in Mikes Zimmer auftauchen? Sie wusste es nicht. Aber eins wusste sie sicher: Sie musste dieses Memorial finden, und sie musste sich mit Vic treffen – sie brauchte Antworten, und zwar dringend!

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