Kapitel 14

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»Victor? Der wievielte Time-Turner bin ich? « Es war still. Sehr still. Hannah verstand nicht, was daran so schlimm sein sollte. »Victor? « Endlich räusperte er sich und schaute sie an. »Ja...? « »Und? « »Hm... Weißt du, Hannah, das ist nicht so sicher. Man weiß es nicht so genau. Aber nach meinen Rechnungen bist du wahrscheinlich die 10. « Die 10. Und was war daran jetzt so schlimm, das Victor ihr es erst nicht sagen wollte? Ach egal, war vergessen. Man konnte ihr in diesem Raum die Laune nicht verderben.

»Ich schau mich jetzt um... okay? « Victor nickte. Sofort schlenderte Hannah zum Regal mit den ältesten Aufzeichnungen. Hannah Frierai, Hannah Gemini,...,Hannah Amdala. Weiter ging es nicht mehr. Das musste die erste Time-Turnerin gewesen sein. Vorsichtig strich sie mit dem Finger über ein Buch. Es fühlte sich rau und alt an – sehr alt. Sie atmete einmal tief aus und der Staub kitzelte sie in der Nase. Es roch nach altem Papier. Sie liebte diesen Geruch. Es war fast so wie auf ihrem Dachboden. Verträumt und in Gedanken an die normale Vergangenheit streichelte sie den Einband des Buches. »Willst du es nicht mal von innen anschauen? « Victor stand direkt hinter ihr, so dass ihr der Atem stockte. »Wie.. Was? « Er musste lachen. »Na das Buch, das du schon seit Minuten streichelst. « Durch das Lachen, bildeten sich bei ihm kleine Grübchen neben seinem Mund, die Hannah nur noch mehr durcheinander brachten. »Ähm...ja...also...was? « Sie hatte sich zu ihm umgedreht.

Jetzt schob Victor sie sachte beiseite und holte das Buch aus dem Regal. Staub wurde aufgewirbelt und er musste niesen. Hannah grinste ihn an und begutachtete dann das Buch. Das Buch war aus altem, früher mal schwarzem Leder. Das Papier war schon gelblich verfärbt und stark zerknittert. Vorsichtig zog sie sich kleine weiße Handschuhe an, um das Papier zu schützen. Langsam und vorsichtig öffnete sie das Buch und hob ein Blatt auf, es lag schwer in ihrer Hand. Sofort fiel Hannah die alte Schrift auf, die mit Tusche und Feder geschrieben worden ist. ‚Regeln zur Handhabung der besonderen Gabe' stand als Überschrift auf der ersten Seite. Vorsichtig fuhr sie die Buchstaben nach. Sie war so fasziniert.

»Sollen wir es mitnehmen, dass du es dir später noch einmal genauer anschauen kannst? « Victor schaute sie fragend an. Beinahe hatte sie sein Flüstern überhört. Es war so leise geworden, dass nur noch die Belüftungsanlagen und das Atmen zu hören war. »Ja. « Hannah schaute ihn an, versank in seine Augen.

Seit langem hatte sie sich leer gefühlt. Es war so ein erdrückendes Gefühl. Als wäre sie gefangen – im Nichts. Als müsse sie auf ihren Tod warten. Jeden Tag quälte sie sich aus dem Bett und fragte sich, was heute wohl wieder passieren würde. Doch genau in diesem Moment waren all ihre Sorgen verschwunden. Sie fühlte sich gut, geborgen, respektiert. Einfach frei. Frei von Sorgen oder irgendwelchen Ängsten um ihre Familie oder über die Zukunft. Sie hatte ihn sehr vermisst. Jetzt erst wurde es ihr klar, jetzt erst verstand sie das Gefühl, das sie seit Wochen plagte. Sie hatte Vic so vermisst, weil er ihr geholfen hatte, er hatte sie wortwörtlich aufgefangen, bevor sie untergehen konnte. Untergehen wegen ihrer Gabe.

Sie hatte nicht bemerkte, wie Victor das Buch zurück in das Regal legte - erst als er sie in die Arme nahm. Es tat so gut alles los zu lassen. Tränen rannten ihr die Wange hinunter, doch sie wischte sie nicht weg. Es war als wäre sie wieder Zuhause – nach einer sehr langen Reise. Lange standen sie so im Archiv-Bunker.

Victor hatte schon von Anfang an gefühlt, dass Hannah mit ihrer emotionalen Belastbarkeit am Ende war. Er hatte es förmlich gespürt, wie sehr sie Hannah unbewusst unter allem litt. Wie dieser starke Druck sie fast erdrückte. Nie hätte er gedacht, dass seine Verantwortung so groß sein würde. Er sah Hannah nicht länger als seine Klientin. Nein er sah sich als ihr Beschützer. Bei ihrem ersten Treffen hatte sie so zerbrechlich gewirkt, doch das war sie nicht. Sie war so stark. Niemand sah es, doch sie war es. Nicht einmal er war so stark wie sie. Er wäre in ihrer Lage schon lange unter der Last zusammengebrochen.

Time-TurnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt