Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis die Sonne sich wieder am Horizont zeigte. Geschlafen hatte sie gar nicht, viel zu sehr fürchtete sie sich davor, dass sie angerührt werden könnte. Ihr Retter vom Fluss, Canovist, wie sie aus einem Gespräch in der Nacht lauschen konnte, stand nun auf und löschte das Feuer. "Kiwani, Kiwani!", weckte er die anderen. Als Anna bemerkte, wie seine Schritte auf sie zu kamen, presste sie schnell die Augenlider zusammen und tat, als würde sie schlafen. Canovist weckte sie vorsichtig und wollte ihr aufhelfen. Er zog sie hoch und durchtrennte ihre Fesseln. Sie waren gestern weit genug geritten, dass es dumm wäre zu versuchen ohne Pferd zu fliehen. Sie würde den Weg zum Lager nie alleine zurück finden. Der junge Krieger würde sie finden, bevor sie Friedrichsburg, den Zielort des Tracks in Texas, erreichen würde.
Eilig packten die Krieger ihr Lager zusammen und verwischten ihre Spuren. Anna half beim bepacken der Pferde. Eine Flucht hatte keinen Sinn, das hatte sie längst begriffen, so wollte sie doch wenigstens in der Nähe der Tiere sein, die ihr Sicherheit versprachen. Ihr Großvater mütterlicherseits hatte selbst eine Pferdezucht besessen und sie hatte ihn als Kind oft besucht. Ihr Onkel, der den Hof und alle Pferde nach dem Tod ihres Großvaters erbte, brachte ihr sogar das Reiten bei. Canovist riss sie aus ihren Gedanken. Er saß bereits auf seinem Pferd und streckte den Arm nach Anna aus. Behände ergriff er sie unter den Armen und zog sie vor sich auf sein Pferd. "Ho iyaya yo! Hakamya upo", rief der Krieger seinen Männern zu, worauf sie ihre Pferde in den Galopp trieben. So ritten sie eine Weile, bis die Krieger ihren Pferden eine Pause im Schritt gönnten.
Plötzlich hörte Anna den Schrei eines wilden Tieres. So einen Laut hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie vernommen. Sie erschrak und fuhr mit dem Kopf herum. Ein riesiger Vogel stürzte auf die Gruppe zu, landete neben Canovists Pferd und stieß sich direkt wieder in die Luft, mit einem kleineren Tier in den Krallen. Beinah panisch sah das Mädchen sich um, ob der Vogel wohl zurück kommen würde, um sich auf die Menschen zu stürzen. Sie hatte von den vielen gefährlichen Tieren gehört, die hier in der Prärie lauern sollen. "Huka, fürchte dich nicht", sprach Canovist zu ihr. "Vogel frisst nur Tier, nicht Frau." Anna war verwirrt: "Du, Du sprichst meine Sprache?" "Du bist vom Volk der iya-sica. Schlechtsprecher. Wir verhandeln, ihr brecht Vertrag." "Es gibt einen Vertrag? Damit ihr auf unserem Land leben dürft? Wieso sollten wir uns an einen Vertrag halten, wenn ihr unsere Dörfer überfallt und unsere Kinder entführt, mich entführt?" "Nicht Land der iya-sica, hier ist Land der Apachen, mein Volk! Iya-sica kommen über das große Wasser, stehlen unser Land und töten unsere Kinder. Wir nehmen für tote Apache Kind der iya-sica. Wir nehmen Heyatawin." "Meine Gruppe hat dir nichts getan! Für die Fehler meines Volkes sind wir nicht verantwortlich. Wir wollen nur in Frieden leben!", Anna verstand nicht mehr. Sie hörte die Schreckensgeschichten über die Indianer in diesem Moment aus der Sicht dieser Indianer selbst und das Blatt schien sich zu wenden. Waren die Deutschen wirklich Diebe und Mörder? Raubten sie den Apachen ihr Land? "Gestern dein Volk tötet Akule bei eurem Lager. Wir nehmen Heyatawin." Das war also der Grund für den Angriff. In der Ferne konnte Anna Rauch und Zeltspitzen erkennen. "Wir erreichen Lager von Apachen", klärte Canovist sie auf. "Wer ist Heyatawin?", wollte Anna noch wissen, obgleich sie es bereits ahnte. "Heyatawin ist Frau auf dem Riff, Frau aus dem Meer. Du bist Heyatawin."

DU LIEST GERADE
Aufbruch in die neue Welt
ПриключенияAls die erst 18- jährige Anna auf der Überfahrt von Deutschland nach Amerika ihre Eltern an der Cholera verliert, bricht für sie eine Welt zusammen. Sie selbst bleibt von einer Infektion verschont, jedoch stellt sie als allein reisende Frau eine Bel...