Eine Woche war vergangen, seit Anna zum ersten Mal in ihrem Leben den Boden des Westens betreten hatte. Eine Woche getrennt vom Track und dem Vermächtnis ihrer Eltern. Drei Wochen schon ohne Mutter und Vater. Allein in einer gottverlassenen Gegend und doch mitten im Paradies. Auch, wenn sie am Anfang wie eine Aussätzige angestarrt worden war, würdigten sie nun die meisten keines Blickes mehr. Nur einige neugierige Kinder verfolgten sie noch mit Blicken und doch versteckten sie sich zwischen den Zelten, nicht wissend, dass Anna sie längst bemerkt hatte.
Canovist war wirklich gut zu ihr. Sie teilte mit seiner Cousine und einigen anderen älteren Mädchen das Tipi. Tagsüber erledigte sie, so gut, wie es ihr gelang, alles, was Canovist ihr auftat. Abends versuchte Kimama ihr ein wenig ihrer Sprache beizubringen und Anna kannte schon einige Worte. Sie verstand, dass die Namen der Apachen alle eine besondere Bedeutung hatte, verstand, wieso man sie Heytawin nannte und, dass dies eine Akt des Respekts ihr gegenüber war. Sie begriff mehr über die Kultur, den Alltag, wie sehr der Stamm die Natur schätzte und war erstaunt, wie er mit ihr im Einklang lebte. Was für Europäer nach einem Haufen Wilden aussah, war in Wirklichkeit eine weit entwickelte Gesellschaft, in der sie sich jetzt schon wohl fühlte. Und das als Gefangene.
Annas liebste Aufgabe war das Versorgen von Canovists Pferden. Das genoss sie sehr, da es sie an ihre Heimat erinnerte, die sie hinter sich ließ. Sie wollte auf ihr Herz hören, so, wie sie es ihrem Vater versprochen hatte und hier bei den Pferden dachte sie, es besonders zu spüren. Grade strich sie verträumt über das Fell einer Fuchsstute, die sie besonders gern hatte, als sie sich an ein Lied erinnerte, dass ihr Vater ihr oft vor der Reise vorgesungen hatte.
„Ade, du theures Vaterland,
Es winkt zum Abschied unsere Hand;
Zwar trübet sich nun unser Blick, Doch lächelt uns der Zukunft Glück
Im Vaterland nur Angst und Noth,
Typhus, Jammer, Hungerstod;
Drum suchen neue Heimat wir
Amerika, bei dir, bei dir ...
Drum treten wir die Reise an
Voll Muth, und das ist wohlgetan;
Besteigen kühn das stolze Schiff
Und trotzen Sandbank, Felsenriff,
Und wenn uns...."
„Was singst du da?" Anna schreckte hoch. Canovist hatte wirklich eine Gabe, sich unbemerkt anzuschleichen. „Musst du mich immer so erschrecken?", fuhr Anna ihn an und biss sofort schuldbewusst die Zähne zusammen. Sie sollte es sich nicht mit einem Mitglied der Häuptlingsfamilie verscherzen. Er nahm es mit Humor. „Heyatawin hat keine Macht über eigene Zunge und schlechtes Gehör", spottete er. Das Mädchen zwang sich zu einem verkrampften Lächeln, vermutlich war es nicht sehr überzeugend. „Ich sage die Wahrheit und Ehrlichkeit ist eine Tugend." „Was ist Tugend?" Immer, wenn Canovist etwas nicht verstand, zog er die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf schief. Diesen Ausdruck hatte Anna nun so oft gesehen, dass er sie zum Lachen brachte. „Ach denke nicht weiter daran, Canovist." „Das Lied. Was sagt es?", wollte er wissen. Anna antwortete nicht, sie lachte immer noch, bis der junge Krieger wütend wurde. „Gehorche Canovist und spotte nicht! Was bedeuten die Worte von dem Lied?"
Sofort verstummte Anna und wandte ihr Gesicht wieder dem Pferd zu. Nun war es geschehen. Sie hatte tatsächlich einen Apachen-Krieger verspottet. Darauf stand bestimmt die Todesstrafe. Und da waren sie wieder, die Schauergeschichten, die ihr als Kind erzählt wurden. Sie atmete tief durch, sie musste sich beruhigen und nicht die Furcht Oberhand gewinnen lassen! Sie schluckte und hasste sich in diesem Moment selbst dafür, keine Kontrolle über ihre Tränen haben zu können. „Es ist ein Lied aus meiner Heimat, von meinem Vater. Es handelt von meinem zu Hause, Hoffnung. Und von Liebe." Der stolze Apache erkannte diese Worte, doch verstand er nicht, wieso Annas Stimme zitterte. „Heyatawin findet neue Heimat hier", versuchte er es. Doch dann wurde er wieder härter. Als Sohn des großen Häuptlings sollte er sich nicht um die Tränen und Worte einer Gefangenen, seiner Gefangenen, scheren. „Ich suchte Heyatawin, um ihr zu sagen, dass Nahrung und Pferd für Reise morgen bereit sein müssen. Du wirst das erledigen, bevor Apachen zur großen Schlacht aufbrechen."
Anna erinnerte sich. ‚Die große Schlacht' nannte Canovist es also. Tatsächlich würde nur eine kleine Gruppe Krieger aufbrechen, um eine Gruppe deutscher Jäger zu überfallen, die ihnen zuvor auf Stammesgebiet Pferde und, wenn sie es richtig verstanden hatte, besondere Steine gestohlen hatten. Sie würden sich nur ihre Pferde und noch zwei weitere als Ausgleich zurückholen. Die Apachen schienen eine direkte Konfrontation im Sinne eines Angriffs zu meiden. Nicht, weil sie nicht tapfer genug gewesen wären, nein. Es hatte eher einen diplomatischen Grund. Sie wussten über die Stärke der deutschen Armee und hatten auch Anna oft genug darüber ausgefragt. Da die Jäger keine Leben genommen hatten, wollten auch die Krieger keine nehmen, um einen Angriff der Kavallerie auf ihr Dorf zu vermeiden. „Es wird morgen alles bereit sein." Nach diesen Worten nickte Canovist kaum merklich und gesellte sich ans Feuer zu den anderen Kriegern. Anna hingegen atmete wieder auf, ihr Kiefer schmerzte, so fest hatte sie die Zähne auf einander gepresst.
Die Pferde mussten noch getränkt werden, also knotete sie ein Seil zu einem Halfter, so, wie Kimama es ihr gezeigt hatte und führte die Tiere zum Wasser. Sie wählte eine Stelle am Fluss aus, an der sie aus Canovists Blickfeld verschwand. Sie wollte für sich sein, wollte nachdenken. Hier hinter dem Hügel mit drei Pferden an der Hand, schien eine Flucht in den Rahmen des Möglichen zurück. Sie wollte hier allein sein, doch allein war sie nicht....
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Aufbruch in die neue Welt
AventuraAls die erst 18- jährige Anna auf der Überfahrt von Deutschland nach Amerika ihre Eltern an der Cholera verliert, bricht für sie eine Welt zusammen. Sie selbst bleibt von einer Infektion verschont, jedoch stellt sie als allein reisende Frau eine Bel...