Der Unbekannte ➰

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Nur noch eine Woche, dann wäre die Schule geschafft! Zumindest vorerst. In fünf Tagen begonnen zwar erst die Weihnachtsferien, aber sie hatte sie mehr als nötig! Früh aufstehen, sich hetzen und rumstressen... Das war gar nichts für sie. Einfach alles viel zu viel!

Sie schloss gerade ihren Spind, als ihr schon wieder jemand ihre Schulsachen aus der Hand schlug. Die losen Blätter fielen aus ihren Ordnern und segelten zu Boden. Zu hören war nur das Gelächter von einer Gruppe Jungs aus ihrer Stufe. Einer von ihnen rief noch hinterher: „Hau endlich ab, du Loser!"

Jeden Tag aufs Neue die pure Hölle. Aber so ist es nun mal, wenn man mit sechzehn in die zwölfte Klasse geht. Die anderen können es nämlich einfach nicht akzeptieren, dass jemand die zehnte Klasse überspringt. Nicht mal nach einem Jahr. Es klingelte. Mit gesenktem Blick kniete sie sich auf den Boden und seufzte.

Gerade als sie anfangen wollte ihre Blätter aufzusammeln, griff plötzlich jemand anderes danach. Verwirrt schaute sie auf und sah einen dunkelblonden Jungen. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Kritisch musterte sie ihn. Er war ihr völlig fremd. Noch nie zuvor hatte sie ihn hier gesehen - oder er ist ihr zumindest noch nie aufgefallen. Schätzungsweise war er so alt, wie ihre Klassenkameraden, trug einen recht langen dunkelgrauen Mantel und einen weißen Sweater darunter. Völlig überrumpelt starrte sie ihn regungslos an. Er jedoch verschwendete keinen Blick zu ihr und sammelte alle Blätter sorgfältig ein.

Als er fertig war, stand der Fremde auf und half ihr hoch. Rasch drückte er ihr die Blätter in die Hand und ging, ohne ein Wort gesagt zu haben. „Danke...", flüsterte sie ihm hinterher. Doch schon kurz darauf war er im nächsten Gang verschwunden, ohne sich noch einmal umgedreht zu haben. Zeit, um über das Geschehnis nachzudenken, blieb ihr nicht, denn sie war sicherlich schon viel zu spät. Eilig hastete sie zu ihrem Geschichtskurs.

Am Ende des Schultages zog es sie, wie eigentlich immer, in die Schulbücherei. Da sie noch ein paar Bücher zurückzugeben musste, besorgte sie sich gleichzeitig noch zwei Neue. Sie hatte bereits ihre schwarze Wollmütze aufgesetzt und sich in ihren dicken Mantel eingepackt, da sie nicht lange brauchen würde. Sie wollte zügig nach Hause.

„Hallo, Amalia! Wie geht es dir heute?", fragte die schon etwas ältere Dame am Schreibtisch, als sie mit dem Bücherstapel zu ihr ging. „Hallo, Misses Grunwald. Mir geht's gut, danke. Ich wollte nur meine Bücher abgeben und diese hier ausleihen. Wie geht es Ihnen?" „Ach Kindchen, du beeindruckst mich immer wieder aufs Neue. Drei Bücher komplett durchgelesen an einem einzigen Wochenende! Das ist schon fast gespenstisch", lachte sie herzlich. Dabei lockerten sich ihre hochgesteckten, grauen Haare aus ihrem Dutt. Dann widmete sie sich auch schon ihrer Arbeit und scannte jedes Buch. Amalia holte ihren Ausweis heraus und legte ihn auf den Schreibtisch von Misses Grunwald. Vor sich her summend blickte sie sich in der Bücherei um. Wie viele unzählige Stunden sie wohl hier schon verbracht hatte...

Hinter ihr öffnete sich die Eingangstür und jemand betrat die Bücherei. Plötzlich wurde sie leicht geschubst. „Ey!", entfuhr es ihr und sie fuhr um. Der schuldige Unbekannte sagte nichts, sondern bedeutete ihr, ihm zu folgen. Daraufhin ging er rasch weiter. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. „Hast du etwas gesagt, Schätzchen?", fragte Miss Grunwald. Doch Amalia beachtete sie kaum und sagte nur: „Äh, ich bin gleich wieder da...", und verließ sie. „Amalia? Alles okay?", rief die alte Dame hinterher, doch sie ignorierte es und lief dem Jungen mit dem grauen Mantel nach. Sie fragte sich, ob es der Fremde von heute Morgen war, der ihr beim Einsammeln ihrer Blätter geholfen hatte. Er lief den langen Gang entlang. Ignorierte jede einzelne Seitengasse. Er blickte sich nicht ein einziges Mal um. Wusste er, dass sie ihm folgte?

Langsam, aber sicher, holte Amalia auf. Bald war sie nur noch zwei Meter von ihm entfernt. Doch dann bog er plötzlich in einen abgetrennten Bereich, ganz hinten in der Bücherei. Dort hielten sich meist einige Schüler auf, die lernten oder Hausarbeiten machten.

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