Nervös wippte sie von einem Fuß auf den anderen. Amalia stand vor dem Zimmer ihres Bruders. Nachdem Doom gegangen war, ist André zusammen mit ihrem Vater nach oben gegangen, um die Koffer auszuräumen. Dabei hatte ihr Vater nervös gewirkt, so als ob er sich nicht sicher war, ob er sich freuen sollte, dass André zu Hause war; denn der Grund für sein erscheinen war offensichtlich kein Guter. Auf dem Weg nach oben hatte André ihr nur noch kurz zugezwinkert und war danach eine Stunde mit ihrem Dad in seinem alten Zimmer verschwunden. Sie hatte nebenan die ganze Zeit gelauscht, wann denn ihr Vater das Zimmer verlassen würde. Vor einigen Minuten ertönte endlich das lang ersehnte Geräusch der Zimmertür und die nachfolgenden Schritte auf der Treppe.
Als sie endlich verstummt waren, hatte sie sich beinahe lautlos aus dem Zimmer geschlichen und stand nun vor der Andrés Zimmertür. Nervös und plötzlich so unentschlossen. Immerhin hatten sie sich drei Jahre lang nicht mehr gesehen. Nicht einmal zu Weihnachten oder zu ihrem Geburtstag war er aufgetaucht. Es war, als würde er nicht weiter existieren. Ab und zu kam ein Brief von ihm. Zu Weihnachten und zu ihrem Geburtstag. Doch nach einiger Zeit fühlte es sich unecht an. Es war, als hätte er nie wirklich existiert.
Hier stand Amalia. Vorsichtig hob sie die Hand um an seine Tür zu klopfen. Sollte sie vielleicht doch warten, bis André bereit war und von selbst kam? Doch, bevor sie eine Entscheidung fällen konnte, klopfte sie an seine Tür. Ihre Hand machte sich quasi selbstständig. Zittrig wartete sie nun vor der Tür. Was, wenn er sich so verändert hat, dass ich ihn nicht wiedererkenne? Wenn er plötzlich nicht mehr ihr gut gelaunter und hilfsbereiter Bruder war? Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, ertönte Andrés Stimme: „Komm rein." Sie atmete tief ein und drückte die kalte Türklinke hinunter. Als Amalia die Tür öffnete, saß ihr Bruder vor geöffneten Koffern und Schrank auf dem schwarzen Flauschteppich. Der eine war bereits geleert, in dem anderen befanden sich noch allerlei Klamotten und Kram. Seine blonden Haare waren wie immer etwas zerzaust, wie die eines Surfers, der gerade vom Strand kam. Die Augen schimmerten in diesem besonderen türkis - wie das Glitzern auf dem Meer. Als er fortging, sah er anders aus. Er war nicht mehr der große Bruder, so wie sie ihn kannte; André war erwachsen geworden. Wie schnell die Zeit vergangen war. Drei Jahre wahr es her. Nun war er neunzehn. Er war gerade dabei einige T-Shirts zu falten, als er zu ihr aufblickte. „Amalia. Ich hatte gar nicht mit dir gerechnet." André hielt inne und strahlte sie an. „Setz dich doch." Amalia lächelte und setzte sich auf sein Bett. Es war frisch bezogen. Als er nicht hier war, hatte sie sich oft in sein Bett gelegt und geweint. Immer dann, wenn sie ihn vermisste oder wenn es ihr nicht gut ging. Doch irgendwann war der Duft ihres Bruders verflogen. Irgendwann fühlte sie sich selbst in seinem Bett nicht mehr geborgen. André hatte wahrscheinlich nicht den blassesten Schimmer, wie es ihr die letzten Jahre ergangen ist. Als sie wieder zu ihm blickte, sah er sie immer noch mit einem breiten Lächeln an. Ach, wie sehr sie dieses Lächeln vermisst hatte. Wie sehr sie die Person vermisst hatte, der es gehörte.
Stillschweigen. Es war so komisch mit André wieder in einem Raum zu sein. Nach dieser langen Zeit, hatten sie da überhaupt noch irgendwelche Gemeinsamkeiten? Eigentlich hätte sie ihm viel erzählen müssen - und er ihr. Doch irgendwie brachte sie kein Wort heraus. Zum Glück beach André bald das Schweigen. „Na, Schwesterherz? Erzähl mal, wie geht es dir? Wie läuft es in der Schule? Und vor allem, das allerwichtigste: hast du meine Klamotten in meinem Schrank in Frieden gelassen?" Er grinste breit und sortierte weiterhin die Klamotten. „Ich kann nämlich jetzt schon meinen lila Pulli nicht mehr finden." Schuldbewusst lächelte Amalia. Sie wusste sofort, von welchem Pullover er sprach. Es war ein Pastell-lila Pullover, Streifen auf jedem Arm. Das gestickte Logo der Marke thronte Stolz auf der linken Seite. André hatte ihn aus einem Second Hand Shop geholt, als er zwölf war. Er bezahlte ihn mit seinem ersten richtigen Taschengeld. Er war ihm dann noch viel zu groß und ihre Eltern hatten es Fehlkauf abgestempelt. Sie schüttelten bloß den Kopf, als er sagte, er würde ihn behalten und irgendwann würde er ihm wie angegossen passen. Und voilà, als André vierzehn wurde, verstand sie so langsam, was er meinte. Der Pulli stand ihm von Jahr zu Jahr besser. Allerdings hatte André ihn wohl bei seiner Abreise vergessen, denn er hing auf seinem Schreibtischstuhl, als er sie damals verlassen musste. „Ich... habe den Pulli aufbewahrt, damit Mum und Dad ihn nicht doch heimlich zur Altkleidersammlung bringen." „Aha, na dann", er lächelte Amalia an. „Wie läuft es in der Schule?" Sie zögerte. Sollte sie ihm sagen, dass sie eigentlich das Opfer in der Schule war? Dass sie diejenige war, die sich kaum traute, die Cafeteria zu betreten und sich stets in der Bücherei verkroch? Sie war jemand ohne Freunde. „Ach, ganz in Ordnung. Notentechnisch ist auch alles top. Kann mich nicht beschweren", log Amalia und zuckte mit ihren Schultern. André zog eine Augenbraue hoch. „Und? Irgendwelche neuen Freunde gefunden?", fragte er misstrauisch. „Ich... ähm... eher weniger. Aber das macht mir nichts. Schien sowieso besser zu sein, angesichts der Tatsache, dass unsere Familie ein riesiges Geheimnis hat." Kritisch beäugte er sie, gab sich aber vorerst mit dieser Antwort zufrieden, denn ihn schien noch etwas anderes zu interessieren. Er überlegte relativ lange, was er sagen wollte, bevor er ihr nun endlich die Frage stellte. „Und hast du... naja... einen Freund? Oder einen gehabt, als ich weg war?" Mit riesigen interessierten Augen schaute er Amalia an. Das Türkis darin schien etwas intensiver zu sein, als es noch vor einer Weile war. Verwirrt sah sie ihn an. „Nein... du etwa? Ähm, also hast oder hattest du eine Freundin?" Jetzt war sie es, die ihn mit großen Augen anschaute. André stoppte in seiner Bewegung. Er wirkte überrascht, dass sie das fragte. „Ich? Hm, ja, ich hatte eine Freundin auf dem Internat. Aber das hat nicht so geklappt. Wir waren zwar ein Jahr zusammen, aber sie und ihre Eltern waren voll überzeugte Mitglieder im Ministerium. Ich habe das herausgefunden, als sie mir sagte, dass sie glauben, dass Doom ein Dämmerlicht sei und sie nur deshalb dort auf dem Internat war." Er schüttelte den Kopf. „Ich hab's Doom erzählt und sie hat sie dann zwei Monate später rausgeworfen, als sie sich eine Nacht unerlaubt vom Schulgelände geschlichen hatte. Jetzt bin ich hier. Die Lage spitzt sich zu." André warf einige Klamotten in den Schrank und schlug daraufhin einen Ticken zu heftig die Schranktür zu. Amalia zuckte kurz zusammen. Er schien etwas gereizt deswegen zu sein. Er seufzte tief. „Ist ja auch egal. Ich bin jetzt hier und das war's, vorerst." Nun stand er auf, klappte die leeren Koffer zu und schob beide neben seinen hellen Kleiderschrank. Dann wand er sich wieder seiner Schwester zu. „So, Amalia. Lass uns für heute nicht mehr in der Vergangenheit wühlen. Was hältst du davon, wenn wir uns um das Abendessen kümmern? Schließlich verpassen wir Weihnachten als Familie und sollten die letzten Tage so viel Zeit miteinander verbringen, wie es geht." Andrés Lächeln war wieder so wie damals: gutmütig und warm. Wenn er lächelte, fühlte es sich an wie Sonnenschein. Wie hatte sie ihren Bruder vermisst!
André hatte sich für das Abendessen seine Leibspeise ausgesucht. Es war eigentlich nichts besonderes, aber er hatte eine ganz spezielle Soße, die das Gericht abrundete. Keine Ahnung, wie er es machte, aber sie schmeckte wundervoll! Als sie endlich alle zusammen bei Tisch saßen, sah sie in allen Gesichtern diesen bedingungsvollen glücklichen Ausdruck. Alle waren froh, wieder beisammen zu sein, doch alle schienen zu wissen, dass etwas nicht stimmte. Und alle waren eingeweiht, so schien es, außer Amalia. Doch sie wollte keinen negativen Gedanken verschwenden und verdrängte das bedrückende Gefühl. Sie würde nun nur noch den Mittwoch, Donnerstag und Freitag durchhalten müssen, denn dann konnte sie alles hinter sich lassen und neu anfangen. Alle machten so ein Drama und so einen großen Wirbel um das, was geschehen war. Nur sie wusste nicht, ob es gut oder schlecht war. Wieso nicht einfach das Beste daraus machen und es als Chance auf ein glücklicheres Leben sehen?
Die nächsten zwei Tage holte André Amalia von der Schule ab. Immer wenn sie ihn wartend am Schultor sah, freute sie sich unheimlich. Auf dem Nachhauseweg erzählte André stets von dem Internat, in dem er gewesen war, und erklärte ihr, wieso es so besonders gewesen war. „Doom ist einfach brilliant", betonte er dabei immer und immer wieder. „Sie hat das ganze System dieser Schule so entwickelt, dass jeder Schüler auch individuellen Unterricht bekommt. Offiziell um das Beste aus ihnen herauszuholen und sie optimal zu fördern, aber insgeheim um Dämmerlichter zu schützen und ihnen zu helfen!" Immer, wenn André jedoch damit begann, dieses ‚Mentor-Schüler' System zu erklären, schaltete sie ab. Es war nicht besonders interessant. Es war wirklich klug, aber sie konnte sich nicht dafür begeistern. Die Hälfte davon verstand sie sowieso nicht. „Jeden Tag hat Doom mit mir trainiert. Sowohl meine eigentliche Fähigkeit - Eis und Kälte - als auch Selbstverteidigung. Als ich das erste Mal eine andere Fähigkeit anwenden sollte, war ich echt aufgeschmissen. Ich wusste nicht ganz, wie das funktionieren sollte. Also hab ich es ausprobiert und natürlich hat es erstmal nicht geklappt. Irgendwann hat es irgendwie klick gemacht. Irgendein Schloss hatte sich in mir geöffnet und ich konnte spüren, dass mir keine Grenzen mehr gesetzt waren. Erst damit wurde mein Licht türkis. Davor war es weiß. Komisch oder?" Nach Andrés Erzählungen drehte sich Amalias Kopf. Es war so viel und sie verstand nicht alles ganz genau. Doch sie war froh, dass er ihr stets etwas erzählte.
Bald kam der Freitag. Es gab keine weitere Begegnung mit Derek oder gar Jake. Moment mal, Jake hatte sie während der letzten Tage total verdrängt. Sie hatte keinen einzigen Gedanken mehr an ihn verschwendet, obwohl sie das vielleicht hätte tun sollen. Er hatte ja angesichts ihrer Vergangenheit und der ganzen Erzählungen auch eine besondere Verbindung zu Amalia. Als sie schließlich mit André nach Hause ging, sprach er sie auf Jake an. „Sag mal, hast du während der letzten Tage mit Jake Kontakt gehabt?" Ihre Schritte knarzten im frischen Schnee. Gerade hatte es erneut begonnen zu schneien. „Nee, nur am Montag. Du weißt schon, wegen der Briefübergabe." Gedankenverloren nickte André. „Also hast du rein gar nichts mehr von ihm gehört oder ihn gesehen?", hakte er nochmal nach. Durchdringlich blickte er sie an. Amalia schüttelte den Kopf. Daraufhin blickte er wieder nach vorn. Sie zog ihre schwarze Bommelmütze etwas tiefer in ihr Gesicht. Der Freitag war eisig und gnadenlos. Wolken bedeckten den Himmel und es sah danach aus, als würde bald ein Schneesturm über sie hereinbrechen. Stillschweigend gingen sie nun weiter nebeneinander her. André hatte seine Hände tief in den Taschen seines schwarzen Mantels vergraben. Sein grauer Schal ragte in sein Gesicht und die schwarze Mütze saß ebenfalls tief. „Amie, pass bitte auf, falls du mit Jake reden solltest. Er hat die Seiten gewechselt."
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Lost Magic - Sie wissen, dass du anders bist.
Fantasy»Nach langem Schweigen ergriff Derek schließlich das Wort. „Also, Amalia", begann er. Er betonte ihren Namen eigenartig. „Was ist an dir so besonders, dass sie dich ans Collêge holen?" Er spuckte die Worte förmlich aus. Genau, was war an ihr besond...